Der französische Philosoph Pascal Bruckner setzt sich gut informiert mit dem Islamismus in Frankreich auseinander. Er wünscht sich eine Erlösung von himmlischen Zwängen und erkennt dabei in dem Land die Ausübung einer modernen, zwanglosen, konvivialen Lebensform, auf die andere, auch Muslime, neidisch werden könnten. 
 
Von Aurel Schmidt

Der französische Philosoph Pascal Bruckner befasst sich seit Langem mit der Ausbreitung und dem zunehmenden Einfluss des Islams in Frankreich. Er kennt sich in der Materie glänzend aus und argumentiert so explizit, so eindringlich, wie man das heute nur noch selten antrifft. Das verleiht seinen Überlegungen einen unglaublichen Elan.


Frankreich ist in eine Turbulenzzone geraten. Beigetragen hat dazu unter anderem der „islamo-gauchisme“. Dieser Begriff, den der Politologe Pierre-André Taguieff geprägt hat, beschreibt die Annäherung von militanter Linker und politischem Islam (Islamismus). Die Gründe des neuen radikalisierten Linkskurses erblickt Bruckner darin, dass der Marxismus nicht mehr zu retten war und das neue Proletariat zu einem substanziellen Teil aus dem muslimischen Migrationsmilieu kam. Was blieb da anderes übrig, als sich nach neuen Verbündeten umzusehen?

Die Folge dieses Diskurswechsels drückte sich in einer fast Orwellschen Umkehrung beziehungsweise Säuberung der französischen Sprache und des politischen Denkens aus. Geläufige Begriffe waren im Hinblick auf die veränderten Verhältnisse unbrauchbar geworden und mussten neu definiert werden. Republik wurde zu einem Synonym für Rassismus oder weisse Vorherrschaft umgedeutet, Aufklärung für Fundamentalismus, Kritik für latente Diskriminierung. Und schon der sonst kluge Politologe Emmanuel Todd tadelte die Laizität – in Frankreich immerhin ein staatstragendes Grundverständnis – als Ausübung einer islamophoben Einstellung.

Alles, was schief lief, konnte die Linke jetzt dem Staat zur Last legen. Sie machte die Muslime zu ihren Protégés, erkannte im Islam „das letzte unterdrückte Subjekt der Geschichte“ und meinte, auf diese Weise ihre revolutionäre Ideologie zu retten. 

Genau genommen hat Bruckner nie die Absicht gehabt, den Islam zu kritisieren. Er weiss, dass er – wie alle Religionen – ein Narrativ ist. Was er in Stellung bringt, ist die Anmassung gewisser Islamisten, im Namen Gottes zu sprechen und mit einer Blutspur angeblich dessen Willen zu vollstrecken.

Befreiung vom Religionszwang

Bruckners möchte aus Muslimen in Frankreich französische Muslime machen. Gelungen ist es bisher nicht. Die Muslime wehren sich dagegen. Ihr Widerstand richtet sich zur Hauptsache gegen die Tatsache der „blossen Existenz Frankreichs“. Die Mehrheit in Frankreich ist zwar wirtschaftlich benachteiligt, aber nicht sie allein. Es gibt es eine spezifische Erklärung dafür. Bruckner zeigt, wie die Globalisierung den Arbeitsmarkt völlig durcheinander gebracht hat und weite Teile der Bevölkerung davon erfasst werden, auch die muslimische Artbeiterschicht, aber nicht nur. Man denke an die prekäre Lage der Gilets jaunes.

Dass aber eher in ihrem Separatismus der Grund liegen könnte, dass die muslimische Bevölkerung nicht aus ihrer aussichtslosen Lage herauskommt, in der sie sich eingerichtet hat, dürfte eher zutreffen. Das Gegenbeispiel ist der pakistanstämmige, in Grossbritannien geborene Sadiq Khan, der Muslim ist und es als Labour-Politiker zum Bürgermeister Londons gebracht hat. Von der muslimischen Gemeinschaft ist er allerdings zuvor schon zum „Nichtmuslim“ erklärt worden.

Bruckner sieht den weit verbreiteten Hass junger, empörter, radikaler Muslime in den Banlieues nicht darin, dass das Land sie unterdrückt, sondern es verhält sich umgekehrt: das Land bietet ihnen im Gegenteil die Möglichkeit einer Befreiung vom Islam an. Nach Bruckners Erkenntnis soll dies der Wunsch vieler Muslime in Frankreich sein. Mindestens wollen sie in Ruhe gelassen werden.

Das ist eine überraschende Feststellung, die Bruckner macht. In den Religionen erkennt er nach wie vor eine Tyrannei und im Islam vor allem eine Funktion als Ordnungsmacht, was mit einer säkularen Staatsauffassung kaum zu vereinbaren ist. Er spricht sich gegen eine „erstickende Frömmigkeit“ aus und für eine für alle geltende “Erleichterung von himmlischen Zwängen“. Glänzend informiert, wie er ist, zitiert er Meister Eckart (ungefähr 1260-1338), den deutschen Mystiker, der bekannte: “Ich bete zu Gott, dass er mich von'Gott' befreie.“ Das rechte Wort zur rechten Zeit. Aber damit it ist natürlich der Religion ein Tor weit geöffnet. Sie ist fortan Privatsache. Dem Atheismus bestätigt Bruckner sogar eine „spirituelle Option“.

Man muss dies alles mitberücksichtigen, wenn man den Satz von der „wohlmeinenden Gleichgültigkeit, die der Markt der Spiritualität für alle Gläubigen bereithält“, richtig verstehen will. Im besten Fall muss der Islam seine Erlöserfunktion aufgeben und eine Religion unter vielen werden. Seltsam ist nur, dass Bruckner nirgends den Zen-Buddhismus erwähnt, diese Befreiungsreligion ohne Gott,die man auch einfach als Denkmodell interpretieren kann.

Neid auf Frankreichs Lebensverhältnisse

Auf Seite 143 setzt Bruckner zu einer weit ausholenden Deklaration an: Man dürfe nicht hinnehmen, dass muslimischer Mädchen vom Schwimmunterricht ausgenommen werden; nicht hinnehmen, dass Muslime sich weigern, einer Frau die Hand zu geben; nicht hinnehmen, dass Flughafen-Mitarbeiter es ablehnen, einem eben gelandeten Flugzeug den Weg zu weisen, weil sie von einer Frau pilotiert wird; und so weiter. Ein langer Katalog. Die westliche, demokratische Staatsform – fährt er fort – hat im Verlauf der Zeit Lebensverhältnisse hergestellt, die es den Menschen erlauben, nach Massgabe ihrer eigenen Vorstellungen und in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen ein freiheitliches, weitgehend selbstbestimmtes Dasein zu führen. Das gelingt leider nicht immer, aber in den westlichen säkularen Ländern eher und besser als irgendwo sonst.

Warum wollen so viele Menschen hierher kommen, wenn sie hier schlecht behandelt werden, nicht nur Muslime? Eben deshalb: weil sie hier in Ruhe gelassen werden, vor allem, jene Menschen, die ausserhalb der Religion ihr Leben einrichten wollen, und weil sie hier Voraussetzungen antreffen, um sich entfalten zu können.

Im weiteren Verlauf gerät das Buch zu einem mitreissendes Plädoyer für eine im guten Sinn liberale, zwanglose, selbstbewusste, unter Umständen auch legere, lässige, saloppe Gesellschaft. Das ist eine Fundierung, die es wert ist, verteidigt zu werden. Westliche Werte sind nicht verhandelbar. Auch sind sie attraktiver, als ihre Verächter annehmen. Die Feststellung einer dezidierten fröhlichen Diesseitigkeit des Lebens bildet den Horizont von Bruckners Weltverständnis.

Und wohlgemerkt: „Wir haben nicht das Recht, uns beim Kampf gegen den Fanatismus“ – und gegen Ignoranz, Opportunismus, moralische Barbarei – „dumm anzustellen.“ Das gibt Bruckner seiner Leserschaft mit auf den Weg.




Das hier besprochene Buch trägt den Titel „Der eingebildete Rassismus. Islamophobie und Schuld“ und ist in der Edition Tiamat erschienen.







7. Dezember 2020

 
 
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