Wenn die Welt sich so schnell verändert, wie es heute der Fall ist, müssten dann nicht auch die Begriffe regelmässig angepasst und revidiert werden. Wäre das ein neuer Revisionismus? Ja und Nein.

Von Aurel Schmidt

Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Welt in einer Weise verändert, dass sie kaum wiederzuerkennen ist. Was ist anders geworden? Die Antwort ist einfach: Alles. Fast alles. Bestimmt vieles. Ununterbrochen sehe ich mich genötigt, alte Einsichten zu revidieren und meinen Wortschatz zu aktualisieren. Bin ich zum Anpasser, Revisionist, Überläufer, Verräter geworden? Wenn ich bei meinen Ansichten bleibe, wird mir Rückständigkeit vorgeworfen, Sturheit, mangelnde Flexibilität. Passe ich mich aber an, stehe ich als abstossender Opportunismus da.

Wie soll ich mich da verhalten?

Dass das Leben sich laufend und immer schneller wandelt, gehört zu ihren Naturgesetzen. Aber wie gehe ich damit um? Kann ethisches Verhalten empirisch, das heisst nach Bedarf an die wechselnden Situationen angepasst werden? Darf es? Soll es?

Der französische Staatspolitiker Alexandre de Tocqueville fürchtete in seinem Standardwerk „Die Demokratie in Amerika“ die Entstehung einer Diktatur der Mehrheit. Heute löst eher die angestrebte Herrschaft von Minderheiten Bedenken aus, die mit Narrativen von sektiererischer Moral das volle Mass der Aufmerksamkeit für sich reklamieren .

Auf welcher Seite stehe ich?

Ein anderes Beispiel. Widerstand und ziviler Ungehorsam sind in einer für autoritäre Ideen anfälligen Zeit ein politischer Imperativ. Bisher war er die Sache einzelner gewesen, die wussten, dass sie sich gegen die formierte Ordnung stellten und bereit waren, die Folgen zu tragen. Das können etwa Whistleblower sein wie Julian Assange oder Edgar Snowden sein, die sich allein von ihrem politischen Impetus leiten lassen. Sie haben erfolgreich darauf aufmerksam gemacht, wie oft viele Führer der angeblich liberalen und demokratischen Staaten ihre Macht missbrauchten, eine Politik der doppelten Strategie verfolgten und Bekenntnis und Sachlage durcheinander brachten.

Neuerdings kann ziviler Ungehorsam nur noch als Flashmob wahrgenommen werden, als Strassenauflauf von verblendeten Besserwissern, Störenfrieden, Querulanten, die ihre Uneinsichtigkeit zur Grundlage ihres Handelns gemacht haben. Früher hätte ich mich auf die Seite dieser Spezies gestellt und Widerspruch zum notwendigen Zivildienst erklärt.

Heute? Hm.

Der Corona-Protestierende ist zur emblematischen Figur der Gegenwart avanciert. Um ein Haar hätte ich ihn zur dumpfen, obskuren Opposition einer Gesellschaft erhoben, die im rasenden Lauf rotiert. Aber soweit will ich nicht gehen. Zuviel der Ehre. Widerstand ja gern. Aber nur, wenn er in einer höheren Form von subtiler, hellsichtiger Subversion, von dissidenter Ironie besteht. Mit Gewalt und Radau auf der Strasse hat das nicht das Geringste zu tun. Resistenz und Renitenz sind zweierlei.

Was ich sagen will: Es ist noch nicht lange her, als ich der Meinung war, jedes Thema müsse im Zeichen einer radikal geführten Auseinandersetzung so weit wie möglich gefasst werden, um der Klarheit willen. Wenn ich sehe, welche Art von Unsinn und Schwachsinn viele Menschen in diesen Tagen verbreiten, dann weiss ich nicht, ob ich nicht auf der Stelle umkehre. Man denke an die Proud Boys, die sogenannten Querdenker, Verbreiter von alternativen Wahrheiten, Verschwörungstheoretiker, Fundamentalisten aller Art, Reichsbürger, Kreationisten, hoch dotierte Propagandisten und andere.

Sie alle haben das Recht zu sagen, was sie als ihre Meinung ansehen. Keine Frage. Aber was sie produzieren, ist nur Phraseologie, Dummheit, Idiotie, Ignoranz. Nicht selten Hass und Hetze (gern in den Sozialen Medien). Selten Witz, Ironie, Übermut. Die öffentliche oder besser: die veröffentlichte Meinung ist das Tal des Schreckens des medialen Zeitalters. Soll das hingenommen werden? Wir erleben eben gerade die Folgen.

Was nun?

Es gäbe tausend Fragen, „bei denen das Für und Wider gleich falsch ist“, sagte vor mehr als vierhundert Jahren der grossartige Philosoph Michel de Montaigne, in dessen “Hinterstübchen“ ("arrière-boutique") ich mich gern begebe, wenn die Zeiten wieder einmal zu dröhnen anfangen. Könnten sich alle Menschen darauf einigen, dass sie (wir alle) nichts wissen, würden sie (wir) vielleicht bereit sein, nicht bei jeder Äusserung sofort loszulegen und die Katastrophe auszurufen. Trotzdem kann es manchmal unvermeidlich werden, die eigene Meinung gegen alle Anfechtungen fest und beharrlich zu verteidigen.

Dass jeder auf seine Façon selig werden soll, war die Überzeugung Friedrichs des Grossen in Potsdam, die er strikt auf die Freiheit der Religionsausübung bezog. Nach dieser Devise können in Polen die Abtreibungsgegner ihre Ansichten nur dann durchsetzen, wenn sie bereit sind einzuwilligen, das gleiche Recht im umgekehrten Fall den Befürwortern zuzugestehen. Die Berufung auf eine höhere Wahrheit ist meistens nichts anderes als ein zwielichtiger Versuch, sich einen Vorteil zu verschaffen. Dass der Staat den Menschen und die Menschen sich untereinander selbst die grösste Freiheit einräumen sollten, nach ihrer Art zu leben, wäre ein imponierendes Ziel.

Die eigene Meinung kann niemals der Weisheit letzter Schluss sein. Auch das wusste der bescheidene, bewunderungswürdige Montaigne. Es gebe, meinte er, keine grössere Dummheit, als alles auf das Mass des eigenen Fassungsvermögens zurückzuführen. Seine relativistische Haltung, die sein Werk durchzieht, leitete er aus den Erschütterungen ab, die die 1562 einsetzenden mörderischen Religionskriege 1562 in Frankreich hinterliessen.

Es war diese Einsicht, die ihn bewog, seine Meinung so weit wie möglich zurückzunehmen. Um sich jederzeit an diesen noblen Vorsatz zu erinnern, liess er den Leitspruch „Ich enthalte mich meines Urteils“ des antiken Philosophen Sextus Empiricus auf einem Balken der Decke in seiner Bibliothek im Turm seines Schlosses anbringen.

Man muss den Anderen grosszügig ihre Präferenzen lassen, aber kann andererseits auch nicht immer alle Zumutungen billigen, die Tag für Tag an unsereiner herangetragen werden. In dieser Situation ist ein bis zuletzt unauflösbarer Widerspruch enthalten. Am Ende führt jede Lösung zu einem neuen Konflikt. Die ultimative Entscheidung ist eine Illusion, ein kapitaler Fehler.

Wenn es darauf ankommt, wird mir also kaum viel mehr bleiben, als eine Entscheidung zu treffen, ohne dafür eine Begründung angeben zu können. Es wird ein ebenso willkürlicher wie souveräner Akt sein. Wenn es so weit ist, werde ich hoffentlich wissen, was zu tun ist.

 

 

21. Dezember 2020