Hier wird das Buch "Wo wir gehen. Unsere Wege durch die Welt" des US-amerikanischen Autors Robert Moor vorgestellt. Nicht als herkömmliche Rezension, sondern in Form eines virtuellen Gesprächs zwischen Verfasser und Leser.

Von Aurel Schmidt

Der Weg ist eine einfache, anregende, breit anwendbare Metapher für die Welt, den Raum, die Zeit. Er ist mehr als das Verbindungsstück zwischen zwei Orten und mehr als das Ziel, zu dem er hinführt, wie gern behauptet wird. „Der Weg ist das Ziel“, sagen die Spassmacher, reiben sich die Hände und erheben das Selbstverständliche, das keinerlei Erklärung bedarf , zur triumphalen Erkenntnis. Natürlich sind wir ein Leben lang – vom ersten Augenblick an bis zum letzten Atemzug – mit unseren Ideen, Projekten, Handlungen unterwegs. Darum ist der Weg der passende Begriff und das Format für alles, was geschieht, und alles, was wir als Leben bezeichnen.

So könnte zusammengefasst werden, was der US-amerikanische Autor Robert Moor in seinem Buch „Wo wir gehen. Unsere Wege durch die Welt“ an Überlegungen und Kenntnissen zu unterbreiten hat.

Er beruft sich dabei auf die Tatsache, dass er den Appalachian Trail in den USA in voller Länge zurückgelegt hat, über 3000 Kilometer in fünf Monaten: von Springer Mountain in Georgia, dem südlichsten Punkt des Trails, zum Mount Katahdin in Maine, dem nördlichsten. Zuletzt versetzte das Gehen ihn geradezu in einen Rauschzustand, und er schaffte bis 50 Kilometer am Tag. Es kann reizvoll sein, die Ortsangaben auf Moors Weg beim Durchmarsch durch das Buch bei Wikipedia nachzuschlagen und sich ein Bild zu machen.

Sein Vorhaben muss Moor, wenn er wochenlang seines Wegs dahin zog, auf die Frage gebracht haben, wie sich die Menschen die Welt erschliessen. Die manchmal sachbezogene, manchmal poetische Beschreibung seines Trecks kontrastiert mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen, zum Beispiel wie Tiere sich im Raum orientieren und verhalten. Oft standen ihm auf seinen verschiedenen längeren Wanderungen Wissenschafter und Naturschützer zur Seite, die ihr Wissen mit ihm teilten.

Wer Moor auf seinen Wegen folgt, gelangt – um einen willkürlichen Einstieg in das Buch zu finden – von der ausführlichen Deskription von Ameisenpfaden zur Schwarmintelligenz. In der Wildnis bewegen sich zahlreiche Tierarten auf festen Pfaden, die sie durch wiederholtes Begehen angelegt und ausgebaut haben. Wir sprechen dann von Trampelpfaden. Wege, Pfade, Strassen, Trails, Schneisen unterliegen einer laufenden Verbesserungen, manchmal auch nicht. Veränderungen bestimmt. Und unbedingt daran denken: Auch Algorithmen sind Pfade, die quer durch das Computernetz leiten.

Wie Ameisen folgen auch Elefanten, mit denen Moor sich ebenfalls befasst, selbst angelegten Wegen. Es sind Tiere einer „lebensraumgestaltenden Art“. Sie „gärtnern“, schreibt Moor, sie roden Land, legen Savannen an und verteilen die Samen der Früchte, die sie essen. Als Folge davon kann es vorkommen, dass ihre Pfade von den Bäumen ihrer Lieblingsfrüchte gesäumt werden. Ihre Wege sind Verbindungen zwischen Grasflächen und Wasserstellen, aber nicht nur. Mit Wegen unterteilen sie eine komplexe Umgebung in leicht erkennbare Abschnitte. Wegnetze sind für sie eine Art gesellschaftlich-räumliches Gedächtnis.

Ursprung der Fortbewegung

Wege haben für Menschen und “nichtmenschliche Tiere“, wie der Autor sagt, die Funktion, sich im Raum zurecht zu finden. Als vorausgehendes Problem stellt sich die Frage, wie die Bewegung von Lebewesen im Sin von Fortbewegung überhaupt entstanden ist, also die Fähigkeit zur Ortsveränderung. Um dies herauszufinden, begab Moor sich nach Mistaken Point, an einem äussersten Punkt von Neufundland gelegen, wo er den britischen Paläobiologen Alex Liu traf , der dort über die Ediacara-Fauna forschte.

Von dieser Tierwelt aus dem Kambrium, das heisst der Zeit von vor etwa 550 Millionen Jahren, ist wenig bekannt. Es scheinen weichteilige Organismen mit üppig-bizarren Erscheinungsformen und ohne Mund und Anus gewesen zu sein. Bei noch älteren Vorformen von Lebewesen handelt es sich meist um bewegungslose Organismen. Die Ediacara-Fauna konnte dagegen ihre Position verlagern und ihren Standort ändern. Es ist nur nicht bekannt, auf welche Art es geschehen ist; es hätte zum Beispiel durch verschiedene Formen der Kontraktion erfolgen können. Mistaken Point ist einer der wichtigsten Fundorte für Ediacara-Fossilien. Mithin kann davon ausgegangen werden, dass an diesem Ort ein grosser Entwicklungsschritt in der Erdgeschichte vorgekommen ist. Bis zur intentionalen Fortbewegung durch Muskelkraft und den Übergang vom liegenden Sein zum gezielten Gang war es dann – regelrecht – noch ein weiter Weg.

An dieser Stelle des Buchs habe ich einen längeren Unterbruch vorgenommen und mich ­– fasziniert von der Materie – noch etwas ausführlicher mit dem Ediacarum befasst. Was als Hinweis gelten kann auf die breiten wellenförmige Kreise, die Moors Buch zieht.

Eine kleine Abschweifung. Nun zurück zum Thema. Die Entstehung von Wegen und Wegnetzen ist durch permanente Wiederbegehung und Verbesserung erfolgt. Zuerst streiften die Tiere durch die Gegend auf der Suche nach einem Ziel, meistens nach Nahrung; die nachfolgenden versuchten, Begradigungen vorzunehmen, Hindernisse auszuräumen und einen besseren, bequemeren Weg anzulegen. Auf die genau gleiche Art werden heute Autostrassen gebaut, korrigiert, begradigt, um einfacher und schneller ans Ziel zu gelangen. Es ist also nicht ganz abwegig, Trampelpfade – siehe oben – zu vergleichen mit Autobahnen, Highways, Fernverkehrsstrassen oder zum Beispiel mit Laufbändern auf den Flughäfen, mit denen man sich ein paar Schritte zum nächsten Gate ersparen will.

Natur und Evolution

Die Natur versucht überall, wo es ihr möglich ist, sich zu verbessern, zu optimieren, und sie erreicht zuletzt immer ihr Ziel. Wir sind alle Optimierer, meint Moor. Der Lauf der Welt ist so gesehen ein ständiger Vorgang der Korrektur, Modifikation, Anpassung, Weiter- und Höherentwicklung ist. Die Evolution selbst ist nichts anderes als ein solcher Prozess auf ein immer eleganteres Ziel hin. Genau in diesem Sinn entsteht durch die voranschreitende Lektüre des Buchs ein umfassendes Wissensdepot mit einem komplexen Fundus und breiten Überblick.

Im Weiteren geht Moor in seinem Buch auf das Verhältnis von Wildnis und Zivilisation, von Drinnen und Draussen ein und fügt es sich perfekt in die aktuelle Outdoor-Philosophie. Viele Menschen bringen heute der Zivilisation ein tiefsitzendes Misstrauen entgegen. In der Disco ist kein Leben. Auch in der Shopping Mall nicht, selbst wenn es manchmal aussieht, als würde sie das Museum ersetzen. Dass es ein anderes Leben gibt, ausserhalb davon, zeigt Moor mehrmals deutlich auf.

Stellenweise ruft sein Buch einen unbändigen Wunsch hervor, sich zu entkonditionieren, aufzubrechen, loszuziehen. Freiheit ist im Freien. Wir müssen einen Weg – einen Ausweg – finden aus der falschen Lebensführung und Wertordnung, in die wir selbstverschuldet geraten sind, und Moor ist dabei ein guter Berater und Ideenstifter. Das macht sein Buch am Ende so befreiend.

Wir sind unterwegs, ein Leben lang. Also auf dem Lebensweg. Das heisst: Wir leben in der Veränderung, also in der Zeit. Dass wir von Bewohnern des Raums zu Bewohnern der Zeit geworden sind, hat der geniale französische Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio deutlich genug vermittelt. Diesen Wechsel im Verständnis der Wahrnehmung hat der Fortgang der Zivilisation mit sich gebracht.

Ganz anders sahen es die frühen Menschen. Sie waren eng mit dem Raum verbunden, der ihr Lebensraum war. Uhren hatten sie keine, aber ein örtliches, topologisches Gedächtnis und eine räumliche Vorstellung, die sie mit Bergen, Hügeln, Tälern, Hängen, markanten Felsen, Schluchten, Quellen, Naturobjekten einräumten. Vielleicht mit dem Lichteinfall der Sonne zu einer bestimmten Tageszeit, nicht anders als zum Beispiel der amerikanische „nature writer“ Henry David Thoreau sich am jahreszeitlichen Stand der Vegetation in der Landschaft orientierte oder der Schweizer Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer an fernem Glockenklang („Horch, mein Kilchberg läutet jetzt“). Wie die Menschen sich in der Wüste, die gelegentlich bis an den Horizont eine strukturlose Ebene sein kann, zurechtfinden, ist schwierig zu verstehen. Mit ihren räumlichen Sinnen scheinen sie über ausgebildete topografische Kenntnisse zur Orientierung zu verfügen.

Essenzielles Wissen

Auch das gehört zu Moors enzyklopädischem Verständnis der Zusammenhänge. Für die Apachen in Nordamerika – schreibt er – sei die Vergangenheit ein ausgetretener Pfad, auf dem ihre Ahnen gegangen sind und dem sie selbst heute folgen in der Prozession der Generationen. Das erinnert mich an einen alten Indianer von der Ethnie der Innut in Labrador, der mir einmal erklärte, dass das Land nicht Kanada gehöre, sondern ihm und seinem Volk, das es durch seine Anwesenheit zum Gebrauch bewohnt.

Für die Cherokee – weiss Moor auch – sind Orte etwas, wo sich etwas ereignet, zugetragen und eine Bedeutung sich kristallisiert hat. Von solchen Orten leiteten sie ihre Identität, ihr Verständnis des In-der-Welt-Seins ab. Um so schlimmer war deshalb für den westlichen Teil der Cherokee die Tatsache, dass sie auf Grund des Indian Removal Act (1830) unter Präsident Andrew Jackson 1832 nach dem dürren Oklahoma deportiert wurden. Von den 16'000 beteiligten Menschen starben 4'000 auf dem Marsch dorthin, der als „Trail of Tears“ in die US-Geschichte eingegangen ist. Es ist unverständlich, dass Moor auf diesen erhellenden Hinweis verzichtet hat. Der Marsch ist das Thema, das der amerikanische Regisseur John Ford hat in seinem Film „Cheyenne Autumn“ aufgegriffen hat.

Was Moor in seinem Buch entfaltet, ist – um es doppeldeutig zu sagen – ein nutzloses Wissen für unsere Zeit. Ungeachtet dessen ist es ein fundamentales, welthaltiges, essenzielles Wissen, das wir aufgeben, wenn alles Existenzwichtige zur Ware degradiert und der Beliebigkeit unterworfen wird. Der Mangel an bestimmten Ideen und Werte wiegt schwer.

Als Beispiel für das „nature writing“ reiht Moor sich in die prominente Galerie so berühmter Autoren ein wie Henry David Thoreau, John Muir, William Henry Hudson, Edward Abbey, Bruce Chatwin mit seinen „Traumpfaden“ oder wie Robert Macfarlane, dessen Buch „Alte Wege“ vor nicht allzu langer Zeit erschienen ist und das gleiche Thema aufgreift wie das von Moor, nur anders. Glücklich muss sein, wer in diesem visionären Literaturraum unterwegs ist.




Bibliografie
Robert Moor, Wo wir unterwegs sind. Unsere Wege durch die Welt. Originaltitel: On Trails. An Exploration. Insel Verlag. 403 Seiten. Fr. 38.90
Ebenfalls erwähnt:
Robert Macfarlane, Alte Wege. Originaltitel: The Old Ways: A Journey On Foot. VerlagMatthes & Seitz, Reihe „Naturkunden“. 346 Seiten. Fr. 42.90

 

4. Februar 2021

 

 
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