Wir hatten uns schon in einer digital-imaginären Welt eingerichtet, da traf die Nachricht vom russischen Einmarsch in die Ukraine ein. Und unvermittelt sehen wir uns mit einer historischen Zäsur von enormen Ausmass konfrontiert.

Von Aurel Schmidt

Wir müssen versuchen, mit der Tatsache zurechtzukommen, dass wir tief in ein neues Zeitalter eingedrungen sind. Was viele Menschen ahnen, ist keine Vision am fernen Horizont mehr. Elektronik, Künstliche Intelligenz, Transhumanismus, Medien, Erforschung der menschlichen Tiefenpsychologie haben das Bild von der Welt und dem Menschen gründlich verändert. Wir nennen die vor uns liegende Zeit Posthistoire, nicht weil die Geschichte abgelaufen wäre, wie Francis Fukuyama meinte. Nur die alte ist es. Die neue hat eben eingesetzt. Wer schon etwas länger gelebt hat, kann es beurteilen, weil er die Möglichkeit des Vergleichs hat.

Wir leben nicht in einer Parallel-Gesellschaft, sondern in diversen. Etwas kann wahr sein oder falsch, es kommt darauf nicht an. Für die sogenannten alternativen Wahrheiten der Trump-Beraterin Kellyanne Conway besteht eine grosse Nachfrage. Meinungen sind austauschbar, die Begriffe schwankend geworden. Es ist so, wie der Titel eines Buchs von Peter Pomerantsev lautet: Nichts ist wahr, alles ist möglich. Ein Wort zur Person: Pomerantsev wurde 1977 in Kiev geboren. Als er drei Jahre alt war, wanderten seine Eltern mit ihm nach Grossbritannien aus. Heute ist er ein scharfsichtiger Kritiker der in medialer Form existierenden Welt, in der Bots und Algorithmen eine zweite oder Ersatz-Normalität herstellen.

Der Unterschied von Fakt und Fake entgeht vielen Menschen, weil sie nicht verstehen, was alles damit verbunden ist. Also verraten wir ein Geheimnis (das keines ist). Die Ununterscheidbarkeit in ihrer Ambivalenz ist fabelhaft geeignet, durch vorsätzliche Verwirrung, also eigentlich durch Propaganda, die Köpfe zu kolonialisieren (wie zuvor, aber diesmal anders) und in einer deregulierten Welt Interessen durchzusetzen.

An dieser Stelle muss eine kleine Abschweifung eingeschoben werden. Der Unterscheidung, was wahr oder unwahr ist, kommt keinerlei Bedeutung zu, wenn alles austauschbar ist. Der grosse Franzose Michel de Montaigne hatte vor 400 Jahren begriffen, dass die Welt sich mit tausend Fragen herumschlägt, "bei denen das Für und Wider gleich falsch ist". Dass jede Aussage, sobald sie gemacht ist, falsch ist, nimmt in der Geschichte der Philosophie des Zweifels breiten Raum ein. Auch was richtig ist, muss begründet werden. Erst wenn wir alle Gewissheiten aufgeben, kommen wir der Erkenntnis näher. Doch wir haben es vorgezogen, uns in einer fake-faktischen, von Fall zu Fall aktuellen Welt komfortabel einzurichten, bis...

Bis russische Truppen in die Ukraine einmarschierten und die Hälfte des Landes dem Erdboden gleichmachten. Wenn wir bisher davon ausgingen, alles Denken und Handeln unterliege den Gesetzen der Virtualität respektiv der postmodernen Beliebigkeit, dann müssen wir mit einem Mal erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass die Realität, die Faktizität, die Eindeutigkeit, die Echtzeit zurückgekehrt sind.

Die Zäsur ist deutlich ausgefallen. Die Bomben sind real, die Toten sind real, die Kriegsgräuel und Zerstörungen sind es – kein dekonstruktives Problem. Nicht, dass die Ereignisse nicht stattfänden, sie finden im Gegenteil mit einer Deutlichkeit, einer Übersteigerung, einer exzessiven Deutlichkeit statt, wie wir es bis vor einigen Wochen für unmöglich gehalten haben. Die Gegenwart ist wieder eine erdrückende Tatsache, und man vertraut wieder der Sprache mehr als den Algorithmen.

Umgeben von einer feindlichen Welt

Auch in geopolitischer Hinsicht werden neue Grenzen gezogen. Lange hatte der Westen sich im Glauben gewiegt, Russland könne durch westliche Sanktionen isoliert werden. Als es darum ging, den Einmarsch Russlands in die Ukraine zu verurteilen, war die Zustimmung in der UN-Vollversammlung und im UN-Menschenrechtsrat gross. Nur wie war es möglich, die tatsächlichen Verhältnisse einfach zu übersehen? Denn die Stimmenthaltung von China und Indien sowie vieler Staaten zwischen Algerien und Südafrika setzte die Situation in ein anderes, überraschen neues Verhältnis. Auffallend war auch, dass sich in den Abstimmungen der Einfluss Russlands und China in Afrika deutlich manifestiert hat. Dass so viele afrikanische Staaten sich so arglos in Abhängigkeit von Russland und China begeben haben, könnte für sie ein spätes Erwachen geben, aber das ist ihre Sache. Irritierend ist nur, dass soviele Migranten versuchen, ausgerechnet nach dem geschmähten Europa zu gelangen.

Mit westlicher Welt wird hier vor allem Europa einschliesslich der EU und der Schweiz gemeint. Für die USA ist Europa von peripherem Interesse. Im stürmischen Prozess der Entstehung einer neuen Weltordnung muss Europa jetzt erkennen, dass es nicht viele Freunde hat. Es wird nützlich sein, die neue Entwicklung ernst zu nehmen, sonst wird das, was westliche Welt genannt wird, bald in die Bedeutungslosigkeit fallen.

Viele Länder, die sich der Stimme enthalten haben, sind aufstrebende Staaten, zwar autoritär regiert, aber mit einer beträchtlichen wirtschaftlichen Prosperität. Für sie ist der Westen mit seiner Rest-Demokratie "dekadent", weil er sich in der Vergangenheit zu oft mit sakraler Inbrunst auf Werte berufen hat, die er sonst bei jeder günstigen Gelegenheit schnell vergessen hat. Diese doppelten ethischen Standards sind ausserhalb des westlichen Einflussbereichs nicht verborgen geblieben.

In dem Augenblick, da die Welt nach einer schweren Krise wieder an Fahrt gewinnt und sich im gleichen Moment eine neue Weltordnung abzeichnet, wird Europa sich auf seine geistige Tradition besinnen und eine Position der Unabhängigkeit und Stärke zwischen den Machtblöcken finden müssen, um als Player in Zukunft eine Rolle zu spielen und einen eigenen selbständigen Beitrag an die Geschichte zu leisten.

Europa hat viel anzubieten, aber alles zu verlieren, was es erworben hat. Das betrifft die Aufklärung, die einen grossen Schritt in der europäischen Geistesgeschichte bildete, nicht aber den Eintritt in ein Goldenes Zeitalter (weil die Geschichte nie zu Ende ist). Es betrifft im Weiteren die in harten Kämpfen errungenen Arbeits-, Frauen-, Menschenrechte einschliesslich der individuellen Freiheitsrechte, die zu einer libertären, zwanglosen, lockeren Lebensform geführt haben; ferner die Herstellung einer kritisierbaren sowie pro forma zur Selbstkritik fähigen Gesellschaft; breite Diversität; Stärkung der Zivilgesellschaft, die einen wesentlichen Beitrag leistet, den die Politik nicht erbringen kann.

Schöne Worte. Danke, sehr gern. Sollte ihr Sinn erkannt werden, ergäben sich daraus praktisch einschneidende Massnahmen. Das vielleicht drastischste Problem unserer Zeit ist die rapid zunehmende Ungleichheit und die als Folge sich ergebende soziale Ungerechtigkeit, in Europa selbst wie in der Welt. Durch Deforestation oder die Ausbeutung von Rohstoffen entstehen keine Arbeitsplätze, sondern werden nur die Vorteile auf der einen und Nachteile auf der anderen Seite verschoben heute ein glänzendes Geschäft für verantwortungslose Konzerne, oft in Kollaboration mit diktatorischen Regimes. Abhilfe kann es nur durch gerechte Verhältnisse und integre Handelsverträge mit garantierten fairen Preisen geben.

Das Hofieren von guten Steuerzahlern, Investoren und Oligarchen ist ein beschämendes Beispiel für die Korrumpierbarkeit der Politik, und vielleicht sollte man wieder einmal feststellen, dass das Wirtschaftsleben nicht primär für die Anleger, sondern zum Wohl der Allgemeinheit da ist, also derer, die durch Arbeit und Produktion zum Ergebnis beigetragen haben. Zuletzt muss auch die Demokratie selbst erneuert und mit neuem Inhalt gefüllt werden. Zu sehr ist sie zu einer okkasionellen Demokratie heruntergewirtschaftet worden.

Auf dem Spiel steht nicht weniger als unsere Glaubwürdigkeit. Nicht jedes gerissene Geschäft kann eine ultimative Entscheidung abgeben. Weitermachen wir bisher geht nicht. Nur eine überzeugende Alternative ist voraussehbar: Europa wird entweder die Vision einer freundlichen, gerechten, unbestechlichen, attraktiven Welt sein oder – nicht sein.

 

 

7. April 2022