Der Film „Das Neue Babylon“ von Grigori Kosinzew (1905-1973) und Leonid Trauberg (1902-1990) wurde 1929 zum ersten Mal aufgeführt. Ort der Handlung ist das Paris der „Commune“ von 1871, als die Bourgeoisie unter Adolphe Thiers sich mit den preussischen Truppen einigte, während das Proletariat die Stadt gegen die Angreifer verteidigte. Der Ausgang ist bekannt: Die „Commune“ wurde blutig niedergeschlagen.
Erzählt wird die Geschichte der Verkäuferin Louise im Warenhaus „Das neue Babylon“ und von Jean, deren Liebe nicht aufgeht. Er ist Soldat im Dienst der französischen Truppen, die den Auftrag haben, der Commune ein schnelles Ende zu bereiten, sie steht auf Seite der „Commune“.
Es ist bekannt, dass die Zensur in die Gestaltung des Filmwerks eingegriffen hat, aber fast unbekannt, wie der Film für das Regisseuren-Duo hätte aussehen sollen. Wir können ihn heute am besten nach dem Verhältnis von beissender Karikatur und greller Frivolität auf der Seite der Bourgeoisie und sozialer Anklage auf der Seite der einfachen und armen Leute beurteilen. Wenn die Communarden tot im Regen auf der Strasse liegen, erscheint dazu das Textfenster „Friede und Ordnung“.
Jelena Kusmina im Film
"Das Neue Babylon" von Kosinez und Trauberg
Das liegt genau in der Absicht der Agitprop, die für das sowjetische Publikum von damals bestimmt war, aber von diesem, wie es aussieht, nicht verstanden wurde. Die Mittel waren einfach zu avantgardistisch für die Zeit.
Der starke künstlerische Eindruck beruht auf den langen, einprägsamen Ansichten von Porträts und Personengruppen der Protagonisten, die einander gegenübergestellt werden; auf den schnellen Bildschnitten, die die Handlung dialektisch und didaktisch strukturieren (das Entsetzen im Gesicht von Jean und der Beifall, den die Bourgeoisie nach dem Massaker an den Aufständischen dankbar spendet); auf der kühnen, expressionistischen Architektur und den grellen Lichteffekten.
Besonders zu erwähnen ist auch die Musik, die Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) für den Film komponiert hat. Sie macht Anleihen bei Cancan, Melodien von Jacques Offenbar und bruitistischen Klängen, bedient sich parodistischer Elemente und setzt den atemlosen Bildrhythmus akustisch kongenial um. Aber sie scheint das Publikum von 1929 überfordert zu haben, das gerufen haben soll: „Der Komponist ist verrückt.“ In Kenntnis des Schicksals von Schostakowitsch und der politischen Verhältnisse in der Sowjetunion von damals müssen wir heute anders urteilen und sind wir besser in der Lage, den experimentellen Charakter der Musik wie des ganzen Films angemessen würdigen.
Jelena Kusmina, die die Louise verkörpert, ist auch im Film „Odna“ (Allein, 1930) zu sehen, der ebenfalls auf das Trio Kosinzew, Trauberg und Schostakowitsch zurückgeht. Beide Filme waren lange Zeit nicht zugänglich und mussten neu ediert beziehungsweise rekonstruiert werden. Bei „Odna“ fehlten Teile, an deren Stelle jetzt Textfenster eingeblendet sind. Die Musik wurde hier von Mark Fitz-Gerald neu notiert, unter anderem auf Grund der Original-Tonspur.
Heute ist die politpropagandistische Absicht des Films kaum noch der Rede wert. Dafür ist der historische kinematografische Aufbruch in eine neue visuelle Welt beeindruckend. Einfach zwei Meisterwerke.
Beide Filme sind als DVD bei absolut MEDIEN in Berlin erhältlich.