Bekannt geworden ist der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau (1817-1862) durch seinen Aufenthalt in einem selbst gebauten Holzhaus („cabin“) am Waldensee bei Concord, westlich von Boston im Bundesstaat Massachusetts, und durch seinen Essay „Civil Disobedience“ (1849) über den zivilen Ungehorsam, in dem er die amerikanische Regierung für ihre Untätigkeit in der Sklavenfrage und für ihren Krieg gegen Mexico anprangerte und sie ausserdem für ihre "Gewissenlosigkeit" brandmarkte (der amerikanische Sezessionskrieg setzte erst später unter Präsident Abraham Lincoln ein).

Ort, wo Thoreaus Holzhaus stand

Der Ort, wo Thoreaus Holzhaus stand
Copyright Aurel Schmidt

Am 12. Juli wird sein 200. Geburtstag erinnert. Die Gründe für die am Waldensee verbrachte Zeit erklärte er später in seinem Buch „Walden oder Hüttenleben im Walde“ (1854) damit, dass er „mit Bedacht“ leben („to live deliberately„) und es nur mit den essenziellen Tatsachen des Lebens zu tun haben wollte, „damit mir in der Stunde des Todes die Erkenntnis erspart bleibe, nicht gelebt zu haben“ (in der Übersetzung von Fritz Güttinger bei Manesse).

Waldensee. Impression

Waldensee. Impression

Es gab für ihn zwei Lebenskonzeptionen: das Postamt als Inbegriff für das eitle, aufgeblasene gesellschaftliche Leben und die Natur, wie er in seinem 7000 Seiten umfassenden Tagebuch vermerkte (die er in einer Holzkiste aufbewahrte). Seine Wahl fiel unmissverständlich auf das Leben in der Natur; über das Postamt konnte er nur lachen.

Sechs Wochen Arbeit im Jahr, nicht mehr

Wenn er sechs Wochen im Jahr einer Arbeit nachging, würde er, so kalkulierte er, genug verdienen, um seine restliche Lebenszeit bewusst und selbstbestimmt führen zu können.

„Wer sich abrackert, ist in einem Irrtum begriffen“, schrieb er in „Walden“. „Das Erwerbsleben lässt dem Menschen nicht genug Zeit, um den Alltag menschenwürdig zu gestalten.“

Daraus zog er für sich die Konsequenz. Stunden- und tagelang streifte er durch die Wälder um Concord in Neu-England. Zu Pflanzen, Früchten, Bäumen,Wäldern, Seen, Bergen unterhielt er eine intime Beziehung wie zu einem guten Bekannten, wie sich seinem mit grosser Anteilnahme geschriebenen, posthum veröffentlichten Werk „Wild Fruits“ (2000, deutsch "Wilde Früchte", 2012) entnehmen lässt.

Dieser radikale Einzelgänger war ein Vorläufer aller jener Menschen, die zu allen Zeiten ein alternatives Leben abseits von Institutionen und Lehrmeinungen gesucht haben. “Um zu sehen, wie die Welt in die Luft fliegt, würde ich noch nicht mal um die Ecke rennen“, sagte er einmal.

Einsatz für den Sklavenbefreier John Brown

Als aber die Auseinandersetzung über die Abolition (Sklavenbefreiung) sich in Amerika in den 1840er-Jahren auszuweiten begann, ergriff er vorbehaltlos Partei für John Brown, der gemeinsam mit einigen Anhängern einen Klein- und Guerillakrieg gegen Sklavenhalter unternahm. Und als Brown 1859 durch den Strang hingerichtet wurde, reiste Thoreau durchs Land, hielt Vorträge über Brown, verteidigte die Gewalt, die er angewendet hatte, und nannte ihn eine „Lichtgestalt“.

Für viele Menschen bis Mahatma Gandhi und Martin Luther King und bis zur Generation der Aussteiger und Blumenkinder in der Nachfolge von 1968 stieg Thoreau selbst zu einer Lichtgestalt auf und wurde ein Vorbild für viele Menschen. Etwas, das er selbst entschieden ablehnte. Dennoch hat er durch alle Zeiten hindurch der Suche nach einem sinnvollen und eigensinnigen Leben einen gewaltigen Schub gegeben.

Heute wird seine auf sich zurückgezogene Lebensführung allerdings vermehrt einer Kritik unterzogen. Sein Rückzug in die Wälder; seine Anfälligkeit für die Abkehr vom Leben in der Gemeinschaft; sein radikales Aussenseitertum; seine Selbstbezogenheit – das alles will nicht so recht zu seiner Empörung über die politischen Zustände passen, die er anprangerte und bei der er es schliesslich bewenden liess.

Daran mag tatsächlich etwas sein. Aber ob sich dieser Widerspruch überhaupt auflösen lässt, ist eine andere Frage. Es sieht nicht danach aus. Weil Thoreau weniger gegen Andersdenkende eingestellt war und sich dafür mehr an seine eigenen Überzeugungen hielt, verfolgte er seinen eigenen Weg, unbeirrt, unnachgiebig und unbeeindruckt von der öffentlichen Meinung. Geschadet hat es seinem Ansehen nicht im geringsten, wie die abertausend Besucher beweisen, die jedes Jahr zu der mit neun Steinen markierten Stelle am Waldensee aufbrechen, wo sein Holzhaus gestanden hat.

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Zu Thoreaus 200. Geburtstag ist auf Deutsch eine Biografie von Frank Schäfer bei Suhrkamp erschienen, ebenso sind in den USA auf Englisch zahlreiche neue Publikationen über den Autor herausgekommen.

The Morgan Library & Museum in New York zeigt bis 10. September 2017 eine Ausstellung über Thoreaus Buch „Walden“, die ab Januar 2018 im Concord Museum in Concord, Massachusetts, zu sehen sein wird. Trotz wunderbarer Exponate, zum Beispiel Thoreaus Schreibpult, bzw Dokumente wurde auf einen Katalog verzichtet. Mehr im Netz

Ausserdem sind von „Walden“ immer noch die zwei unentbehrlichen Übersetzungen von Fritz Güttinger („Walden oder Hüttenleben im Walde“, bei Manesse) und Erika Ziha („Walden. Ein Leben mit der Natur“, bei Diogenes) erhältlich.

Einzelausgaben findet man bei Diogenes („Vom Spazieren“, „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“), Jung und Jung („Die Wildnis von Maine“ und „Ktaadn“ aus dem Zyklus „The Maine Woods“) sowie Matthes & Seitz („Lob der Wildnis“, ferner die ersten zwei Bände einer im Entstehen begriffenen Gesamtübersetzung der Tagebücher). Ebenfalls liegt bei Matthes & Seitz von Stanley Cavell die Abhandlung „Die Sinne von Walden“ vor, die einen fundierten Zugang zu Thoreaus Hauptwerk erschliesst.

Die englische Veröffentlichung von Thoreaus Werken sowie seiner Tagebücher liegt bei Princeton University Press. Mehr dazu hier.