Die Bilder und Assoziationen in den Gedichten des peruanischen Schriftstellers César Vallejo können ihre Leserinnen und Leser bis in den Schlaf verfolgen, so beunruhigend sind sie, so ungewöhnlich, so überraschend.
Vallejo wurde 1892 im Anden-Hochland geboren und lebte von 1923 bis zu seinem Tod im Jahr 1930 in Europa, die meiste Zeit in Paris. Das Leben ist bedrückend – und die Poesie kann es nicht aufheitern. Wie sollte sie? Es kann nicht ihre Aufgabe sein. Für Vallejo legt sie Zeugnis ab von den Entbehrungen, den Drangsalen, der Unerträglichkeit des Daseins.
In einer kleinen Ortschaft in der Cordillera Blanca in Peru
ist an der Hauswand einer lokalen Bibliothek ein Porträt
des peruanischen Autors César Vallejo abgebildet.
Foto © Aurel Schmidt
Gelegentlich schaltet Vallejo sich selbst in seinen Werken als Moderator ein. „Es gibt Schläge im Leben, so stark... Ich weiss nicht!“ Hier spricht Vallejo, aber er spricht das Unaussprechliche aus oder versucht es, heisst das. Nur die surrealo-poetische Sprache könnte hier noch weiterhelfen, die sich über alle Konventionen und Sinnverständigungen hinwegzusetzen und sich mit einem gewagten Sprung in eine andere und höhere Welt zu befördern versuchen würde. „Wir kämpfen, um durch ein Nadelöhr zu schlüpfen...“, schreibt Vallejo. Doch am Ende bleibt dieser Versuch wie alle anderen Bemühen vergeblich.
Während sein Werk in spanischer Sprache zugänglich ist und uneingeschränkt bewundert wird, mangelt es bisher im deutschen Sprachbereich weitgehend daran. 1963 veröffentlichte Hans Magnus Enzensberger wohl einen Band „Gedichte“ in der „Bibliothek Suhrkamp“, danach folgen Jahrzehnte des Schweigens, bis im Jahr 2000 der Rimbaud Verlag eine vierbändige Ausgabe mit der Lyrik Vallejos in der Übersetzung von Curt Meyer-Clason herausbrachte. Danach wiederum Schweigen.
Aufregend, chaotisch, einfallsreich
2018 dann eine Überraschung. Der Berenberg Verlag in Berlin bringt einen Band mit Chroniken und Artikeln („Reden wir Spanisch – man hört uns zu. Berichte aus Europa 1923-1930“) von Vallejo heraus, von Peter Kultzen übersetzt und mit einem Vorwort versehen. Hinter dem Verlag scheint viel Geld zu liegen, was, wenn es stimmte, immerhin ein ambitiöses Programm ermöglicht hat, für das der Vallejo-Band steht. Entnommen wurden dessen Beiträge der Originalausgabe, die 1969 und erneut 1987 erschienen ist.
Während seines Aufenthaltes in Europa schlug sich Vallejo durchs Leben, so gut es ging: kümmerlich. Unter anderem schrieb er für hispano-amerikanische Zeitungen, das meiste von aberwitziger Überhitzung. Mehr als einmal möchte man sich fragen, was die Leserschaft im fernen Lateinamerika damit anfangen sollte. Mit journalistischer Information haben die Beiträge nicht viel zu tun, sollen sie auch nicht. Dafür mit etwas anderem umso mehr: mit einer grandiosen literarischen Qualität, die so aufregend ist, so chaotisch und einfallsreich, wie es der sprachliche Duktus der Beiträge selbst ist.
Vallejo schreibt vor allem, wie es ihm in Europa ergangen ist, wo er „jeden Morgen umgeben von Kamm, Seife und allem anderen“ aufwacht. Also nicht unbedingt luxuriös. Wenn er auf das Thema Geschwindigkeit als sozialer Wahrnehmungsmotor in den Zwanzigerjahren in der französischen Metropole eingeht oder auf den Pariser Autosalon, der ihm einen radikalen sozialen und mentalen Wandel anzeigt, bei dem der Künstler das Nachsehen hat und der Elektriker dafür umso besser wegkommt – wenn man das liest, dann kann man den armen Vallejo durch die Strassen von Paris irren sehen auf der Suche nach einem Nadelöhr, um der fürchterlichen Realität des einfachen Lebens zu entkommen.
Eindrücke von Europas Kulturleben
Nur ist die Stadt ein Moloch. Sie verschlingt ihn. „Ich hasse Strassen und Wege. Wie lange habe ich mich in Paris herumgetrieben, ohne jemals Gefahr zu laufen, mich zu verirren. Die Städte sind so. Dass sich ein Geist verirrt, ist in der Stadt unmöglich, nur zugrunde gehen kann er dort.“ Immerhin registriert Vallejo auch, wenngleich sehr persönlich gefärbt, was sich im Pariser kulturellen Leben tut, und vermittelt er Eindrücke etwa von Pablo Picasso oder den Werken Max Ernsts mit ihren „pneumo-gastrischen Darstellungen“ nach Südamerika. Weiterführende Angaben zu Vallejos Leben, Werk und Denken im Kontext der Zeitumstände wären manchmal wahrhaftig hilfreich gewesen. Leider sind Herausgeber und Verlag nicht gerade grosszügig damit umgegangen.
Mit den Jahren wird Vallejo sozialkritischer – und erliegt einer seltsamen Einseitigkeit in der Beurteilung. Im Unterschied zu Frankreich gibt man in Madrid „im Alltag den ewigen Werten der Humanität den Vorrang vor dem Dampf der Lokomotiven, den Zahlungsraten, Autohupen und gewöhnlichen Flugzeugflügeln“. Zweimal reist er in die Sowjetunion, wo er die Feststellung macht, dass die Proletarierwohnungen „geräumig, komfortabel, hygienisch“ sind. Für viele Menschen war die Sowjetunion eine grosse Hoffnung. Nur wenige Jahre später fanden in Moskau die Schauprozesse statt und gelangte in Spanien der Franquismus an die Macht. Da war das Hoffnungspotenzial bereits erschöpft und die Enttäuschung enorm. Es müsste interessant sein zu erfahren, wie Vallejo auf die Entwicklung reagiert hat. Beiträge von 1931 bis 1938 liegen ja zur deutschsprachigen Veröffentlichung bereit.
Ein Anfang ist jetzt gemacht. Das ist schon mal etwas. Zu tun und nachzuholen gibt es jedoch noch etliches. Zur Erinnerung: 1986 veröffentlichte die legendäre Literaturzeitschrift „Akzente“ eine Vallejo gewidmete Ausgabe mit Beiträgen, vor allem in Prosa, die so aufsehenerregend sind, dass man fast von einer editorischen Vernachlässigung des Autors sprechen muss. Aber es gibt Möglichkeiten, das Versäumte nachzuholen. Wünschen würde man es sich dringend.