Was der Zukunftsforscher Matthias Horx über künstliche Intelligenz (KI) sagt, ist so schlau, dass man fast den Eindruck bekommen könnte, es selbst schon einmal gedacht zu haben. Aber zugleich ist es angemessener als alles, was seine Kritiker gegen ihn einzuwenden versuchen. Kürzlich hat er der dpa (der Deutschen Presseagentur) ein Interview gegeben, auf das der Verlag Heise in seinem Verteiler aufmerksam gemacht hat.
Horx' Behauptung lautet, dass Künstliche Intelligenz überschätzt wird. Die Probleme, für die wir heute eine Lösung finden müssen (Klima; Armut; soziale Diskrepanz; Rüstungswettlauf; und andere), werden sich kaum durch Algorithmen beheben lassen.
Oft wird der Einsatz von wie Enten quakenden Robotern in japanischen Altenheimen als Beispiel verwendet, um zu demonstrieren, wie die wie ein Tsunami auf uns einstürzende Zukunft eines Tages aussehen wird. Um die Alten und Betagten stillzuhalten, sind alle Mittel recht. Hier liegt ein falscher Vergleich vor und ein Fall von latentem Zynismus. Das Thema der Überalterung hat mit KI nichts zu tun.
Auch selbstfahrende Autos sind Humbug. Nichts tun die Menschen lieber als sich ans Steuer zu setzen, das Gaspedal zu drücken und rasant loszulegen. Schlafende Menschen in autonom fahrenden Autos sind kein Fortschritt.
Als Fatalität könnte sich allerdings herausstellen, den Einfluss der Daten auf unser Leben eher zu unterschätzen als überzubewerten, wie es heute geschieht. Wir sind als Zeitgenossen gerade dabei zu erleben, wie die Menschheit in einen Daten-Gulag gesperrt wird. Unter Zuhilfenahme von KI werden wir alle und überall überwacht, getrackt, kontrolliert, aber mit seinem Citizen Scoring, der ebenso totalen und totalitären Überwachung seiner Bevölkerung, ist China auf der Schnell- und Pionierspur. Mit beklemmenden Ergebnissen. Und was in China Alltag und Routine ist, sollte bei uns nicht unmöglich sein. Individuelle Freiheit, Schutz der Privatsphäre, Menschenrechte und so weiter werden sich bestimmt de-reglementieren lassen. Die Dystopie ist eine Definitionsfrage.
Künstliche Intelligenz ist Big Business
Dass die KI permanent neue Hypes von grandiosen Fortschritten und phantastischen Zukunftsvisionen produziert, hat viel mit dem Versuch von Start-up-Unternehmen zu tun, an die reichlich fliessenden Forschungs- und Fördergelder heranzukommen. Denn KI ist Big Business; eine Goldgrube; der neue Wilde Westen; der neue globale Horizont.
Technik und Expansion der Datenwelt haben in einem Mass zugenommen, das alles übertrifft, was sich die menschliche Einbildungskraft vorstellen kann. Vor 25 Jahren wusste niemand mit Algorithmen, Virtualität, Digitalisierung oder KI etwas anzufangen. Seither haben die Daten sämtliche Bereiche des individuellen und kollektiven Lebens erfasst und umgekrempelt. Nicht alle haben es richtig verstanden und bemerkt, aber die meisten bereitwillig akzeptiert, wie das Data Mining an der Ladenkasse oder beim Chatten und Surfen und auch sonst zeigt. Die Fernsehapparate melden an Amazon und Google, welche Programme wir anschauen. Die Vorteile der Digitalisierung sind beträchtlich, die Nachteile allerdings auch. Sie geben uns potente Werkzeuge in die Hand, aber liefern uns auch an sie aus.
Erst kürzlich hat das chinesische Unternehmen Big Pixel einen Zoom mit einer Kapazität von 195 Gigapixel (Giga gleichMilliarden) vorgestellt, mit dem auf 2000 und mehrt Meter Distanz Autoschilder und andere Details gelesen werden können, was zu Kontroll- und Spionagezwecken bestens geeignet ist. Zugleich lässt sich mit einer solchen hochentwickelten Technik umgekehrt verifizieren, ob eine politische Person zum Beispiel ein neues Gesetz unterschreibt oder (wie angeblich Donald Trump an Weihnachten 2018 im Weissen Haus) nur ein leeres Blatt Papier vor sich herschiebt.
Der gewöhnliche Alltag wird in unzählige Vorgänge und eine Reihenfolge von kleinen Handlungseinheiten zerlegt, wie sie für die Operations- und Funktionstüchtigkeit der aktuellen Welt erforderlich sind. Die Folge sind unvorstellbare Datenmengen. Schon heute können wir ohne iPhone keine Toilettentür mehr öffnen.
Von KI gesteuert
Die Frage lautet nicht, ob KI (künstliche Intelligenz) der MI (der menschlichen Intelligenz) überlegen ist und sie die Menschheit versklaven beziehungsweise ob die Maschinen Bewusstsein erlangen können. Dazu müsste erst festgestellt werden, was Bewusstsein ist: ein kreatives Potenzial? ein neuronales Netz? eine kausale Reaktion? ein Algorithmus? Was den Menschen von der Maschine unterscheidet, ist sein faustischer Wissenstrieb, die Unberechenbarkeit seines Verhaltens, sein Wille zur Transzendenz, in dem jedoch gerade auch das drohende Verhängnis liegen könnte.
Bis auf Weiteres ist es alles andere als ausgemacht, dass die Singularität (die Unumkehrbarkeit der digitalen Entwicklung und das kurz darauf eintretende "Ende der Ära des Menschen"), von der der US-Informatiker und Science-Fiction-Autor Vernor Vinge gesprochen hat, nahe ist (im zutreffenden Fall blieben noch knapp vier Jahre Zeit).
Die alles entspricht den in der Populärkultur oft genüsslich verbreiteten Horrorvisionen, wie sie zum Beispiel auch der Schwede Nick Bostrom, der in Oxford Philosophie lehrt, in seinem Buch "Superintelligenz" ausgeführt hat, wozu er indessen seriös durchdachte und konsequent zu Ende geführte Überlegungen angestellt hat. Nur: Das Problem liegt anders – banaler, bedrohlicher. Machen wir uns nichts vor. Wir sind längst viel weiter vorangekommen, nur anders als gedacht.
Immer mehr Abläufe des technologischen und alltäglichen Lebens werden heute durch Algorithmen gesteuert: in der Güterproduktion (Automation; Roboter; 3-D-Drucker); bei der Regulierung von Verkehrsströmen; bei der Planung und Lenkung von logistischen Abläufen; in der Medizin (Tele-Medizin); in der Architektur; auf dem Gebiet der Augmented Reality (etwa bei Übungen von Sicherheitskräften, die sich auf das Eindringen in unbekannte Gebäude vorbereiten). Am Skilift haben Technik und Einsatz bei der digitalen Gesichtserkennung ganz enorme Fortschritte erzielt, desgleichen bei der Populationskontrolle. Nicht zu reden von den immer smarteren Chat-, Propaganda- und Social Bots und den Sprachassistenten von Amazon, Apple, Microsoft und Google, bei denen es manchmal kaum noch möglich ist, den Turing-Test zu bestehen und zu entscheiden, ob wir es mit einem Menschen oder einer Maschine zu tun haben.
Für den Börsenverkehr werden fortlaufend Daten erhoben (politische Wahlen; Terrorakte; meteorologische Daten und deren Auswirkungen auf die Ernten; und viele andere). Die so gewonnenen Erhebungen werden für die Erstellung von Algorithmen verwendet, mit deren Hilfe die finanziellen Transaktionen durchgeführt werden. Alles ist einfach zu ermitteln, zu speichern, in Daten umzuwandeln und in Real Time zugänglich zu machen.
Digitales Nirwana
Überall sind Daten, Programme, Software, Algorithmen, Netzwerke im Einsatz. Ohne sie kommen wir keinen Tag mehr aus. Würde jemand wagen, sie zu umgehen – die Alarmsignale würden sofort anfangen zu schrillen. Die Maschinen haben ein Eigenleben entwickelt, das gegen alle individuellen Eingriffe immun ist. Vor langer Zeit schon haben die Menschen ihre Kompetenz an die Maschinen abgetreten. Jeden Tag ein Stückweit mehr. Eigentlich irreversibel.
Die Daten haben uns fest im Begriff, und nichts sieht danach aus, dass sich daran bald etwas ändern wird. Eine Entwicklung 2.0, ein neues Netz neben dem bisher schon bestehenden – auch das scheint aussichtslos. Nun sollte zwar niemand von Alternativlosigkeit sprechen, weil niemand wissen kann, was auf uns zukommt. Vieles ist schon eingetreten. Mehr steht bevor. Es ist nicht unvernünftig, mit unerwarteten und überraschenden Wendungen zu rechnen, und vielleicht haben wir alle auch eines Tages die Nase voll. Aber uns allzu grosse Hoffnungen auf eine Änderung machen, sollten wir aus den gleichen Vernunftgründen auch nicht.
KI werde überschätzt, sagt Horx. Auch das Gegenteil ist richtig. Sind nicht alle Prognosen längst eingetreten? Die Falle ist zugeschnappt, und wir sitzen darin fest – in einem Goldenen Käfig mit angenehmen Alternativen und lukrativen Optionen. Was spricht dagegen? Der Transhumanismus, das Interface von Mensch und Maschine beziehungsweise Gehirn und Computer, hat sich als folgenschwerer Entwicklungsschritt in der Menschheitsgeschichte herausgestellt. Zu spät. Es ist vollbracht. Das digitale Nirwana ist nahe.