...solange nicht Aussicht besteht, die gegenwärtig bestehende Wirtschaftsordnung vollständig umzukrempeln beziehungsweise aufzugeben. Weiterzumachen wie bisher wird die Lage nicht verbessern, sondern im Gegenteil bestimmt massiv verschlechtern.

Von Aurel Schmidt

Es ist jetzt möglich zu wissen, was auf uns zukommt, und uns damit auseinandersetzen. Wenn wir wollen. Alles beweist jedoch, dass ausser Lippenbekenntnissen und Alarmmeldungen dazu keine Absicht besteht. Es ist bekannt, dass zum Beispiel die deutschen Nordsee-Insel eines der ersten Opfer der Klimaveränderung sein werden. Die Menschen vor Ort sind sich der Bedrohung bewusst, aber bisher habe ich noch nicht gehört, dass die deutsche Bundesregierung sich mit dem Thema befasste.

Es geht uns gut, sehr gut, immer besser. Aber während wir die Wirbelstürme und die Hitzetage zählen, den Rückgang der Gletscher messen, Listen der Arten erstellen, die verschwinden, oder uns um die Igel sorgen, die überfahren werden, weil sie nachts beim Überqueren der Strasse nicht aufpassen – währenddessen geht die Welt still und leise zu Grund, "not with a bang but a whimper", wie es im Gedicht von T. S. Eliot heisst: nicht mit einem Riesenknall, sondern leise, schleichend, ohne dass es auffiele. So können wir ruhig weiterschlafen. Wir werden zu spät aufwachen und erkennen, was wir nicht gewollt haben.

Wirtschaftswachstum ist Zerstörung

Die falsche Rhetorik ist weder zu überbieten noch auszuhalten. Ungerührt sprechen Wirtschaftsführer und Politiker von mehr Wirtschaftswachstum, Fortschritt, Wohlstand. In die Entzugsanstalt mit diesen Begriffen. Es sind Synonyme für Überproduktion, Ressourcenverschleiss, Umsatzsteigerungen, Transport, Verschwendung, Abfall, Zerstörung. Müll bleibt Müll, auch wenn er getrennt wird. Mehr Wirtschaftswachstum heisst mehr Macht und Einfluss der Wirtschaft auf das Leben der Menschen, die nichts davon haben, auch wenn sie kollaborieren und sich mit den neuesten Konsumlabels ausrüsten, sowie mehr Gewinn für die Kapitaleigner. Dass ihnen das Gros der Konsumenten mit seinem Verhalten dabei zudient, haben sie selbst noch nicht gemerkt.

Der Luxus der einen ist das Elend der anderen. "Immer mehr" bedeutet nach dem paradoxen Umkehrsatz immer weniger. Wenn ich alles besitze, weiss ich nicht meht, was ich mir noch wünschen könnte, und Unzufriedenheit breitet sich aus. Wir haben schon alles, aber noch nicht genug. Die Welt wird vollgestopft mit Dingen, die niemand braucht für ein gutes Leben, aber für deren Absatz immer grössere Summen in die Werbung fliessen müssen. Bis zur Asphyxie; bis wir an der angehäuften Menge ersticken – die wiederum ein Destruktionspotenzial in sich birgt, das unsere Lebensgrundlage bedroht.

Aber Herr Schmidt, erklären Sie doch einmal, wie Sie es mit dem Konsum halten. Wen meinen Sie, wenn Sie von "wir" sprechen.

Wir sind wir alle: wir (die einen), die das Spiel mitmachen, und wir (die anderen), die sich dagegen auflehnen und genau wissen, dass es keinen Ausweg gibt. Wir sind, wir alle, Teil einer Ordung, eines Systems, einer gesellschaftlichen Totalität, die so dicht strukturiert ist, dass jeder Versuch eines Eingriffs aussichtslos erscheinen muss. Meinen Wein will ich abends gern trinken, und ein Spaziergang im Wald ist eine grossartige Selbstregenerierung. Das reicht? Es reicht längstens. Meinen materiellen Verbrauch versuche ich so gering wie möglich zu halten, nicht um die Welt zu retten, sondern als Bedingung einer radikalen philosophischen Lebensführung. Im Übrigen sind Widersprüche Teil der Realität. Sicher ist nur, dass mit individuellem Verzicht nichts erreicht wird, es braucht...

Wir stecken in einem Dilemma

Moment! "Es braucht" sei ein Satz, den es nicht brauche, hat Peter Sloterdijk gesagt. Ich muss mich also mit Dank an den Philosophen besser ausdrücken. Erst eine umfassende mentale gesellschaftliche Bewegung wird etwas bewirken, aber dass das eine Illusion ist, wissen wir alle, auch wenn wir so tun, als wäre es nicht so. Ist es aber doch. Man kann sich nicht mit dem Fallschirm aus dem Sumpf ziehen. "Es gibt kein richtiges Leben im falschen", sagte Theodor W. Adorno, wenn wir schon bei den Philosophen-Zitaten sind.

Also sind wir wieder soweit wie zuvor und sezieren unverdrossen weiter den Plastikmüll in den krepierten Fischen oder messen in Erwartung der schmelzenden Polarkappen die steigenden Meeresspiegel auf den Nordseeinseln oder in Bangladesh oder sonst irgendwo.

Dabei werden heute mit neuen Methoden, Materialien und Produkten Verbesserungen erzielt, die vielversprechend sind. Die deutsche Autorin Christiane Grefe hat darüber das beeindruckende Buch "Gobal Gardening" geschrieben, das einem Hoffnung machen könnte. Nur muss leider befürchtet werden, dass die Entwicklung in Richtung auf ein vernünftigeres Handeln, sobald die ersten Früchte gereift sind, vom beschleunigten Gang der Ereignisse und der Vervielfachung der Probleme mehrfach überholt und wieder zurückgeworfen worden ist.

Das alles kann niemals heissen, die Dinge, wie sie sind, auf sich beruhen zu lassen. Der erste Schritt zu einem fundamentalen Wandel, wenn er überhaupt gewünscht ist, kann aber nur darin bestehen, dass wir uns mit coolem Verstand klarmachen, dass wir in einem gigantischen Dilemma stecken. Erst dann werden wir aufbegehren und eine paradigmatische Wende vollziehen können. Vorher nicht. Oder aber überhaupt nicht. Doch dann kommt es darauf auch nicht mehr an. Das wird es dann gewesen sein.

3. Mai 2019