Europa ist nicht die EU. Europa ist eine Idee, ein Projekt, eine Errungenschaft. Die EU beziehungsweise das Signet "Brüssel" ist eine Dienststelle der Wirtschaft. Sie unterstützt die Anliegen der Wirtschaft einiger in Europa liegender Staaten, nicht mehr. Sie ist eine Wirtschaftsunion.

Von Aurel Schmidt

Wenn sich die EU auf Europa beruft, wie es andauernd geschieht, dann ist das ein Missverständnis. Die kürzlich abgehaltenen Parlamentswahlen zum sogenannten Europa-Parlament waren in Wirklichkeit eine Wahl zu einem Parlament der EU-Staaten, übrigens mit wenig demokratischen Befugnissen.

Europa ist der Name für einen jahrhundertelangen historischen Kampf auf dem europäischen Kontinent für Frieden, freiheitliche, demokratische Staatsordnung, soziale und politische Gerechtigkeit, Kultur, Erkenntnis. Die Menschen haben zu seinem Aufbau einen wesentlichen Beitrag geleistet. Europa ist ihr Werk. Unter keinen Umständen darf dieses Europa mit der in Brüssel ansässigen Administrationsmaschine namens EU verwechselt werden.

Doch genau das ist es, was geschieht. Der Wirtschaft ist es in einzigartiger Art und Weise gelungen, qua EU im übergeordneten Namen Europas zu sprechen. Andererseits hat die starke Position der Wirtschaft Europa eine fast 75-jährige Friedenszeit bereitet. In einer zusammengehörenden Wirtschaftseinheit wie der EU Krieg zu führen wäre aber auch ein absoluter Irrsinn.

Unübersehbar sind dafür die die politischen Defizite, vor allem eine überzeugende institutionelle politische Vertretung. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es mehr als deutlich ausgesprochen, als sie von "marktkonformer Demokratie" sprach, als hätte sie sagen wollen: Wenn nur die Märkte, gewissermassen die Kontinuität der ökonomischen Praxis, nicht behelligt wird, kann die Demokratie gern bleiben. So hat sie und haben wahrscheinlich viele gedacht. Ein Freudscher Versprecher war es nicht. Demokratie wird problemlos geopfert, wenn damit gute Handelsabschlüsse herausgewirtschaftet werden können. Mit den Verträgen von Maastricht (1992) und Lissabon (2004) ist versucht worden, der EU intern eine demokratische Legitimation (Verfassung, Parlament) zu geben, mit bisher nur mässigem Erfolg, wie man feststellen muss.

Dass die Zustimmung zur EU in ihrer heute bestehenden Form stark geschwunden ist, kann kaum übersehen werden. Populismus, Working Poor, Gelbwesten in Frankreich sprechen eine deutliche Sprache. Die Menschen scheinen gemerkt zu haben, dass die global handelnde Wirtschaft ihnen kaum etwas gebracht hat, viel dagegen den Global Playern.

EU in der Kritik

Die zentrale Aufmerksamkeit der EU liegt in der Bedienung der Märkte. An zweiter Stelle folgt die permanente Baustelle Fiskalpolitik, deren Harmonisierung keine schlechte Entscheidung wäre, aber solange reine Rhetorik bleibt, als Irland, Holland und Luxemburg sich zu Steueroasen entwickeln, die eine halbwegs angemessene Besteuerung der multinationalen Konzerne zum Nachteil anderer EU-Mitgliedstaaten verhindert. Der EU fehlt offenbar die Kompetenz, für einen minimalen Ausgleich zu sorgen. Dass der frühere Finanzminister von Luxemburg, Juncker, zum Präsidenten der Brüsseler Kommission gewählt werden konnte, zeigt das Ausmass des Vertrauensverlusts in die EU an.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die fortgesetzten Versuche, den Arbeitsmarkt zu deregulieren. Das Prinzip Konkurrenz hat Vorrang, das Wohlbefinden der Menschen weniger. Dass eine Sozialpolitik, die diesen Namen verdiente, praktisch inexistent ist, obwohl das Wohlergehen der Menschen in den Gründungsurkunden der EU festgeschrieben ist, stellt sich als enormer Nachteil heraus. Der deplorable gegenwärtige Zustand der EU ist das Ergebnis der bisher verfolgten und falschen Austeritätspolitik.

Ein weiterer Einwand betrifft die Regulierungswut. Ein Gastwirt in Norditalien erklärte seinen Gästen, wie er im eigenen Unternehmen Wein und Würste produziert, die er ihnen serviert. Jetzt befürchtet er, seinen Betrieb nicht weiterführen zu können, wenn weitere Lebensmittel- und andere Vorschriften der EU ihm wie vielen anderen das Leben sauer machen.

Es ist ein Fehler der EU, dass sie viel zu sehr auf die grossen Player eingeht und die Menschen übersieht, die um einen Platz im Leben kämpfen müssen. Auf eine solche defizitäre EU kann gut verzichtet werden. Würden deren Erwartungen auch nur einigermassen erfüllt, liessen sich übergreifende Projekte auf einer höheren Ebene leichter umsetzen.

Unübersehbar ist die EU in eine bedrohliche Schieflage geraten. Von aussen und innen ist sie heftigen Angriffen ausgesetzt, und nicht selten besteht der Vorsatz, sie zu dekonstruieren, zu zerstören. "Fuck the EU", meinte 2015 die US-amerikanische Europa-Beauftragte Victoria Nuland. Man kann annehmen, dass sie es so gemeint hat. Noch Fragen? Dann können wir fortfahren.

Druck von aussen und innen auf die EU

Von aussen setzen die USA und Russland der EU zu, auch China, aber noch gibt es keine Anzeichen, dass die EU entschlossen wäre, vereint und mit Nachdruck ihre Interessen wahrzunehmen. Im Inneren der EU sieht die Lage anders aus. Zum einen ist sie zu einem Operationsfeld für organisierte und Cyberkriminalität, arabische Familien-Clans, etwa in Berlin-Neukölln, und islamistische Bestrebungen geworden und hat sie die Sicherheitserwartungen sträflich vernachlässigt. Zu lange haben die Zuständigen weggeschaut, weil andere Fragen unverhältnismässig wichtiger gewesen zu sein scheinen.

Weitere Kräfte stellen die EU ebenso auf eine Zerreissprobe, etwa die Antidemokraten in Polen und Ungarn oder der Brexit. Die Populisten besonders in Frankreich und Italien, die von Russland finanziert werden und von USA sowie zum Teil offenbar von Israel ideologische Unterstützung erhalten, betreiben eine Anti-EU-Politik mit einer nationalstaatlichen Einstellung, die ein Rezept aus dem 19. und 20. Jahrhundert ist, aber im 21. Jahrhundert kaum noch viel taugt.

Eine auf die Zukunft vorbereitete EU steht vor einer doppelten Aufgabe. Sie muss die Annahme einkalkulieren, dass die um sich greifende Unzufriedenheit mit den zunehmenden sozialen Unterschieden und der sozialen Deklassierung breiter Bevölkerungsschichten zu tun hat, der Populismus jedoch, der sich als Heilsbringer anbietet, nicht die Lösung sein kann, sondern das Problem ist. Soll die EU gedeihen, "werden wir nicht darum herumkommen, die Hürde einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik zu nehmen", stellte die Politikwissenschafterin Ulrike Guérot fest und schrieb von einem "sich ankündigenden europäischen Bürgerkrieg" als Reaktion auf die "Perversionseffekte des Neoliberalismus". Das ist ein starkes Wort und besagt nur soviel, dass eine andere Sozialpolitik sich aufdrängt.

Vom Ökonomen und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz wiederum konnte man kürzlich lesen: "Durch eine pragmatische Neuverteilung der Macht zwischen Staat, Märkten und Zivilgesellschaft ist es möglich, ein freieres, gerechteres und produktiveres System zu etablieren" – zum Wohl aller Beteiligten. An die Arbeit.

Dass es so weitergehen soll wie bisher, wird im Ernst niemand wünschen. Sonst würden noch ungleich heftigere Verwerfungen sich ankündigen.

Starke EU für ein starkes Europa

Die zweite Aufgabe wird sein, eine andere, das heisst sozialsierte und demokratisierte EU zu installieren, bei der eines Tages auch die Schweiz dabei sein kann. Das bedeutet, dem Populismus eine Alternative gegenüberzustellen.

Eine solche EU kann sich nur entwickeln und ausbreiten in einem selbstbewussten, souveränen und selbst demokratischen Europa. Sie muss sich dazu eine Haltung der Stärke ("un comportement de puissance", wie der frühere französische Aussenminister Hubert Védrine in einem Interview mit dem französischen Nachrichtenmagazin "Le Point" gesagt hat) zulegen. Das ist nicht im Sinn einer "Zitadelle Europa" zu verstehen, wie die Verächter der Europaidee gern in die Welt setzen, sondern eines Europa, das mit seinen im Lauf der Zeit gemachten Erfahrungen und entwickelten Werten und Vorstellungen wie Gleichheit, freie Entfaltung jedes Menschen, Zusammenleben in der Verschiedenheit eine signifikante Aufgabe in der Welt übernimmt.

Zu einem solchen starken, demokratischen, freiheitlichen Europa, das die Matrix für eine Gesellschaft der Menschen mit ihren vielseitigen Interessen bildet, könnte und sollte die EU eine Pionieraufgabe ausüben, wenn sie die Zeichen der Zeit erkennt. Das muss kein Widerspruch zum bisher Gesagten vorliegen. Eine fortschrittliche soziale EU und ein starkes Europa wirken wechselseitig auf einander ein.

Es gibt dazu eine überraschende historische Parallele. Der Deutsche Zollverein hat im 19. Jahrhundert, als ungefähr 1800 Zollstellen und zahllose Währungen den Verkehr in den unübersichtlich fragmentierten deutschen Ländern stark behinderte, eine Vorreiterrolle für eine deutsche Wirtschaftseinheit ausgeübt und schliesslich 1871 einen Beitrag zur Gründung des Deutschen Reichs geleistet.

Die EU könnte eigentlich und müsste eine ähnliche Funktion für ein politisches Europa von morgen ausüben. Dazu gibt es verschiedene Anläufe. Gut so. Aber soweit ist es noch nicht. Die Herkulesaufgaben stehen erst bevor.




11. Juni 2019