Von Aurel Schmidt
Wenn ich mich in meinem Zimmer nordwärts auf den Weg mache, komme ich nach kurzer Zeit an einem Büchergestellt mit Kunstbüchern vorbei. Auf der obersten Auslagefläche liegen Objekte, die ich von meinen Reisen zurückgebracht habe und mein Privatmuseum bilden. Es sind Löffel aus verschiedenen Teilen der Welt dabei, tibetische Tassen für den Buttertee und andere Gegenstände. Von fern grüsst eine Mao-Statue aus Messing, die ich in einem Geschäft in Suzhou in China erworben habe.
Beim Weitergehen komme ich an dem Teil der Bibliothek vorbei, wo die literarischen Werke stehen. Schon bald erblicke ich an der Wand eine Pastellzeichnung von René Fendt aus der Zeit, als er an der Serie "Drinnen, draussen" arbeitete. Sein Thema waren Durchblicke, bei denen man nicht weiss, ob man von drinnen nach draussen schaut oder von draussen nach innen. Beide Blickrichtungen sollten sich gegenseitig durchdringen und eine künstlerischen Kommentar zu Werner Heisenbergs Unschärferelation leisten.
Nach kurzem Aufenthalt biege ich scharf nach links, stehe vor dem Fenster, blicke auf den zurückgelegten Weg und schaue auf die Strasse hinunter. Nicht viel los heute...
Die aufmerksame Leserschaft wird längst Verdacht geschöpft haben, dass ich hier an einem Pastiche schreibe, das auf den als Roman bezeichneten Bericht mit dem Titel "Die Reise um mein Zimmer" von Xavier de Maistre (1763-1852) Bezug nimmt.
Der französische Autor war wegen eines Duells zu 42 Tagen Hausarrest verurteilt worden. Man kann sich vorstellen, wie er sich überlegte, wie er die Zeit verbringen sollte und auf die Idee kam, eine Reise durch sein Zimmer zu unternehmen. Unterwegs wollte er alles, auch das Beiläufigste, wie ein Forschungsreisender zur Kenntnis nehmen und festhalten. Und was entdeckte er? Ein auf Zimmergrösse geschrumpftes Universum.
"Geht man von meinem Lehnstuhl weiter, entdeckt man im Hintergrund meines Zimmers mein Bett, das den freundlichsten Ausblick bildet. Es steht günstig: Die ersten Strahlen der Sonne treiben ihr Spiel auf meinen Vorhängen", stellt de Maistre fest. Im Folgenden beschreibt er den weiteren Weg zu seinem Schreibtisch wie eine Expedition in eine fremde Weltgegend.
In einem Zimmer sitzen und nichts tun, aber die Metaphysik des Augenblicks im ganzen Umfang auf sich einwirken zu lassen zu verinnerlichen, ist eine Kunstgriff, der ebenso viel Vergnügen bereiten wie Erfahrung vermitteln kann.
Etwas mit der Zeit anfangen
Wir leben gerade in einer Zeit, da aus Gründen der weltweiten Bekämpfung einer bedrohlichen Pandemie die Bevölkerung aufgefordert ist, das Haus so selten wie möglich oder, noch besser, überhaupt nicht zu verlassen. Das hat sich für viele Menschen als extrem schwierige Bewährungsprobe herausgestellt. Sie empfinden die notwendig gewordenen Massnahmen als Einsperrung, Bevormundung, administrative Repression. Sie entdecken mit einem Mal die Bewegungs- und Mobilitätsfreiheit neu und nehmen sie als letztes Individualrecht wahr, das ihnen geblieben ist und ihnen nun genommen werden soll.
Eine andere Frage könnte sein, warum es die Menschen kaum je lange allein aushalten. Solange ihr Alltag einen geregelten Verlauf nahm und nicht viel Zeit und Gelegenheit blieb, um mit neuen Lebensformen zu experimentieren, war alles in Ordnung. Aber nun mussten viele unter ihnen mit einem Mal zu ihrem Erstaunen feststellen, dass sie kaum wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Sie haben es nie gelernt, und es fällt ihnen schwer, ihr Leben in die Hand zu nehmen und autonom zu gestalten. Was für eine beklemmende Misere liegt in dieser Feststellung.
Gerade für kreative Menschen bildet das Selbstbestimmungs-Management aber genau die unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt konsequent an einem Werk erarbeiten zu können. Ohne einen grossen Teil der Lebenszeit an einem Schreibtisch, in einer Bibliothek, in einem Künstleratelier allein (aber nicht einsam und verlassen, sondern aktiv) in Klausur zu verbringen, ist nichts zu machen. Die selbst auferlegte Isolation stellt sich als Notwendigkeit heraus, um das Leben wie ein Programm, wie ein Kunstwerk zu gestalten und sich der eigenen Souveränität zu bemächtigen.
In "Hamlet" lässt Shakespeare seine Titelfigur sagen: „Ich könnte in einer Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten.“ Genau in diesem Moment schwenkt das Assoziationskino zu den tibetischen Klöstern hinüber, wo Mönche sich bisweilen wochenlang in einer völlig verdunkelten Zelle zu spirituellen Übungen und transzendentalen Erfahrungen einmauern lassen.
Das Gegenbeispiel: Der türkische Schriftsteller und Zeitungsverleger Ahmet Altan hat in einem von Erdogans Kerkern versucht, die Realität umzukehren, wie er in seinen beklemmenden "Texten aus dem Gefängnis" beschrieb, und sich auf eine längere Zeit in Gefangenschaft einzustellen. Was er entdeckte, war seine innere Freiheit. "Ihr könnt mich einsperren, wo immer ihr wollt. Auf den Flügeln meiner unendlichen Vorstellungskraft werde ich die ganze Welt bereisen." Altan hat übrigens das Buch von de Maistre gekannt.
Der grosse französische Philosoph Pascal hat in den "Gedanken" (1669, posthum) die Auffassung vertreten, das Unglück des Menschen komme daher, dass er nicht ruhig in einem Zimmer bleiben könne. Wie für andere, war auch für ihn die räumliche Kompression Voraussetzung für die Erfahrung der inneren Wahrheit des Menschseins.
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf den französischen Schriftsteller Marcel Proust, dessen angegriffene Gesundheit ihn zwang, zu Hause zu bleiben und oft das Bett zu hüten. Das konnte ihn nicht abhalten, eines der grossen Werke der Literatur, "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", zu schaffen.
Evasion in fremde Welten
Dies alles sind Versuche, das Dasein wie eine Reise durch unbetretene Räume zu erleben. Unternommen werden können sie oft, ohne das Zimmer zu verlassen, auch oft, ohne sich überhaupt vom Fleck zu rühren. Der Literaturwissenschafter Bernd Stiegler hat das Thema untersucht und in einem Buch abgehandelt.
Seine Feststellung: Zimmerreisen wie die von de Maistre bilden in der Literatur eine eigene Gattung, beliebig ergänzt um Variationen wie Fenster-, Schubladen-, Schreibtisch-, Dachbodenreisen und so weiter. Er zählt sie auf und fasst zusammen, was darüber alles gesagt worden ist, zum Beispiel von Arthur Mangin, dem Verfasser einer "Voyage scientifique autour de ma chambre" (1862), der den Eindruck hatte, ein Zimmer sei "unbestritten das weiteste Land der Erde": "Alle Arten von Entdeckungen, Beobachtungen, Studien sind darin möglich", etwa die haargenaue Betrachtung eines Spinnennetzes. Das Kleine offenbart sich im Grossen, das Grosse umgekehrt im Kleinen. Nur Aufmerksamkeit ist erforderlich und Einbildungskraft.
Und komparatives Vorgehen. Wie dem Flaneur das eigene Stadtviertel zwischen Kiosk, Zeitungsaushang, Tags an den Hausmauern, Schaufensterauslagen, Reklametafeln die weite Welt ersetzt, so hat Walter Benjamin im "Passagen-Werk" erklärt, dass der Flaneur die Strasse als seine Wohnung und die Pariser Passagen als Salon erlebe.
Reisen werden als Aktionen im physischen Raum vollzogen. Das gehört zu ihrer Definition und erklärt zugleich, warum sie als multipler Begriff aus der Transport- und Zirkulationslehre verwendet werden können, um variierende Lebenssituationen zu deklinieren: das Leben als Reise, Expedition, Grosse Fahrt mit wechselnden Stationen, Aufenthalten, Etappen, Horizonten. Dass sie aber auch ohne den Realraum gedacht werden und nur in der Imagination vorkommen können wie der Versuch von de Maistre, also fast ohne Ortsveränderung, das ist es, worauf der Titel "Reisender Stillstand" von Stieglers Buch anspielt, der so paradox ist wie das, was er meint.
Belletristische Reisen sind narrative Erfindungen zur Evasion in wunderbare, abenteuerliche, geheimnisvolle, phantastische Welten. Auch hier drei Anzeigen, willkürlich aus der Kiste der Beispiele gegriffen: von Edgar Allan Poe ("Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym"), Herman Melville ("Moby Dick" mit enzyklopädischen oder "Mardi" und "Taipi" mit pseudo-anthropologische Passagen) oder James Hilton ("Irgendwo in Tibet", zu oft zu Unrecht übersehen).
Eine andere Kategorie fasst antiquarische Reiseführer zusammen wie alte Baedeker mit der Auflistung von Ländern, Städten, Sehenswürdigkeiten, Aussichtspunkten (bei Baedeker sehr beliebt), Infrastrukturen, Reisezeiten und so weiter oder alte authentische Reiseberichte wie die von Charles Darwin, Sven Hedin oder zum Beispiel Ernest Shackleton, dessen entbehrungsreiche Expedition 1914-17 mit der "Endurance" in die Arktis beinahe als Katastrophe geendet hätte. Sie sind geeignet, in ferne Welten und alte Zeiten wegzutauchen, ohne die alte Geografie auszulassen. Mit Bruce Chatwin liegen der Outback oder Patagonien in Reichweite. Es genügt, den Arm auszustrecken, die Bücher hervorzuholen und darin zu verschwinden, auch wenn ein zufällig Vorbeikommender meinen könnte, da würde jemand im Fauteuil sitzen und lesen...
Rückzug in die Bibliothek
Noch differenzierter wird die Sache, wenn für die Reise die Wohnung, der Schreibtisch, der Armsessel überhaupt nicht verlassen werden muss und ein aktives Leben, wenn auch nur in der Vorstellung, dennoch infrage kommt. Dann begegnen wir dem sogenannten Sessel- und Pantoffelreisenden, der in der Bibliothek zu den aussergewöhnlichsten Reisen aufbricht wie im Fall des Basler Gelehrten Johann Jakob Bachofen (1815-1887).
Bachofen war Jurist ebenso wie Altertumsforscher, was ihn auf viele Reisen führte. Als Anthropologe verbrachte er dagegen für die Ausarbeitung seines Hauptwerk "Das Mutterrecht" viel Zeit lesend ihm Lehnstuhl in seinem Haus an der Augustinergasse. Etwas, das mit Mutterrecht zu tun gehabt hätte, wäre ihm in der Welt draussen kaum begegnet. Umso mehr musste er sich zur Ausarbeitung der Materie in eine Unmenge Literatur vertiefen und aus vielen verstreuten Einzelhinweisen eine Theorie orchestrieren.
Das gleiche liesse sich auch von Gustave Flaubert sagen, der für den Roman "Bouvard und Pécuchet" 1500 Bücher gelesen haben wollte, die er zu einer "Universalenzyklopädie der menschliche Dummheit" verarbeitet hat. Auch "Salammbo" von ihm ist ein bibliothek-basiertes Werk.
Jede praktisch zurückgelegte Reise setzt den, der sich darauf einlässt, Hitze, Staub, Durst, Näss, Kälte, Müdigkeit und anderen Unbilden aus, nicht selten auch Verdruss, mehr als man denken würde, ausser wenn die Absicht bestehen sollte, am Strand zu schmoren, was dann aber den Titel Reise nicht verdiente. Wer darauf verzichten will, dem bietet sich als allerletzte Option an, die eigenen gemachten Reisen im Erinnerungsraum zu aktualisieren und im Replay-Modus noch einmal durchzuleben: Nächte im Schlafsack im Sand in der Wüste; eine Flussfahrt in der Hängematt auf Deck eines Flussschiffs auf dem Rio Guaporé im Amazonasgebiet...
Eine Kaskade von Bildern geht mir in diesem Augenblick durch den Kopf. Was für ein Wunder, denke ich. Was für ein Glück.
18. April 2020