Von Aurel Schmidt
Rassismus ist ein weit reichendes Thema. Zu oft stellt er sich als Sprengsatz heraus, um andere, abweichende Meinungen zu verhindern. Nichts kann und darf ihn rechtfertigen. Wenigstens sollte er den weissen Antirassismushelfern, mit denen ich mich hier auseinandersetze, etwas Differenzierungskompetenz abverlangen. Toleranz heisst nicht, alles unbesehen hinzunehmen, sondern im Gegenteil eine unabhängige kritische Einstellung zu bewahren und verteidigen. Auch wenn sie stören sollte...
Ich habe einmal eine Woche neben einem afrikanischen Dorf am Fuss des Oldoinyo Lengai, dem „Gottesberg“ der Massai, verbracht. Jeden Tag zogen die Massai mit ihren Viehherden vom Hochplateau hinunter an den Lake Natron im Rift Valley zum Trinken und trieben sie danach wieder zurück. Es war eine aufwändige, manchmal dramatische, aber zugleich pittoreske Arbeit, die Können, Hingabe und Ausdauer verlangt und Anerkennung verdient.
Auf der Rückreise nach Arusha machte ich in Monduli Halt und kaufte in einer „duka“ (in Ostafrika ein kleiner Laden) etwas zu trinken. Der afrikanische Verkäufer wollte wissen, woher ich kam. Von den Massai. Der Mann staunte: „Very low people“, sagte er mit abfälliger Miene. Niedriges Volk. Ich hatte etwas anderes erlebt: eine virile, aktive, stolze Lebensform.
Das erinnert daran, dass heute leicht in den Verdacht des Rassismus gerät, wer einen fremd aussehenden Menschen fragen sollte, woher er kommt. Während verschiedener Reisen in Indien bin ich oft von Menschen auf der Strasse angesprochen und nach meiner Herkunft gefragt worden. Damals dachte ich: Wir kommen alle von irgendwo her, und wenn wir uns begegnen, wollen wir wissen, wer wir sind. Das ist eine natürliche Veranlagung. Heute aber frage ich mich irritiert, ob ich es damals mit indischen Rassisten zu tun gehabt habe. Natürlich nicht, bewahre.
Rassismus ist weiter verbreitet, als man denkt. Populärpsychologisch könnte er darauf zurückzuführen sein, dass „der Andere“ uns nicht als unseresgleichen begegnet, nicht als Nahestehender, Nächster, Nachbar, sondern als Fremder, als Rivale, also als Bedrohung. Furcht und Ablehnung haben sich als Relikt aus grauer Vorzeit erhalten. Heute mag die Gefahr von einst gebannt sein, trotzdem ist ein Rest von letztem, tiefsitzendem Misstrauen geblieben, den unser Krokodilhirn nicht überwunden hat. Nach wie vor ist der Andere ein Begriff für Abgrenzung, Konfliktursache, Gefährdung und nicht für Unterscheidung, Diversität, Vielfalt.
Rassismus als Armut,
Diskriminierung und
Erfahrung von Polizeigewalt
„bento“, „das junge Magazin des 'Spiegels'“, wie es sich nennt, veröffentlichte vor noch nicht langer Zeit einen Artikel, in dem der Journalist Malcolm Ohanwe seine Lebenssituation in der kanackischen Community in Deutschland beschreibt. Als Kanacken werden Einwanderer aus Nordafrika, dem Nahen Osten, Iran und Afghanistan in die deutschsprachigen Länder bezeichnet. Ohanwes Vater ist Nigerianer, seine Mutter Palästinenserin, er selbst ist dunkelhäutig und bekennt sich zu seiner arabischen Herkunft. In dem Beitrag beschreibt er den „anti-schwarzen Rassismus unter muslimisch markierten Menschen“, den er selbst in Form von Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren hat, auch in der eigenen Familie.
Der Begriff Rassismus hat im biologischen Sinn seine Bedeutung praktisch verloren, im juristischen erweist er sich nach wie vor als brauchbar. Für wiedergeborene Antirassisten ist er das, was sie darunter verstehen. Zur Erklärung reicht das aber nicht aus, das Thema ist ungleich komplexer und heikel zu sezieren.
Die Ereignisse der jüngsten Zeit haben beinahe wie eine Eruption die Lage der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA deutlich gemacht und gezeigt, welche tiefen, traumatischen Verletzungen die Sklaverei hinterlassen hat. Wer verstünde das nicht? Die Ereignisse aus der Vergangenheit sind noch lange nicht aufgearbeitet, die Folgen manifestieren sich als massive soziale Benachteiligung und Diskriminierung, zum Beispiel, wenn die afroamerikanische Bevölkerung bei der Ausübung ihres Wahlrechts behindert wird. Rassismus stellt sich als Problem von Armut, Deklassierung und exzessive Polizeigewalt, die es überhaupt erst hervorgerufen hat, dar. Die Parole „Black Lives Matter“ zeigt, wie sehr es zunächst vor allem um das nackte Überleben geht, bevor die angenehmeren Seiten des Lebens in Frage kommen.
Man kann die Wut der afroamerikanischen Bevölkerung auf die Weissen verstehen und ihre Anklage gegen „white supremacy“ (weisse Suprematie, Hoheit, Herrschaft) ebenso wie auf die „white privileges“ (Vorrechte beziehungsweise Bevorzugung der Weissen).
Noch weiter führt der Katalog der Anklagen gegen die Weissen, wenn die Forderung „Abolish whiteness“ oder noch direkter „Abolish the white race“ (Schafft das Weiss-Sein beziehungsweise die weisse Rasse ab) erhoben wird. Wenn das vorkommt, dann muss es erlaubt sein, dagegen sein zu dürfen. Es ist ein Fehler, die Weissen als eine homogene Gruppe zu betrachten, wie der in den USA lehrende französische Literaturwissenschafter Laurent Dubreuil in einer Auseinandersetzung mit der Identitätspolitik eingewendet hat.
Die Indianer in den USA
verlangen die Einhaltung
alter Verträge
Es ist allerdings möglich, die Benachteiligung der afroamerikanischen Bevölkerung auch unter einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten und ohne dabei die faktischen Diskrimierungen in der geringsten Weise in Abrede zu stellen. Black Lives Matter, natürlich. Fakten ebenfalls.
Sandra Kostner, die an der PH Schwäbisch Gmünd für den Masterstudiengang „Interkulturalität und Integration“ zuständig ist, hat nachgewiesen, dass asiatischstämmige Amerikaner ein deutlich höheres Haushaltseinkommen erzielten (87194 Dollar) als selbst Weisse (im Vergleich dazu 70642 Dollar). Wenn also unter der afroamerikanischen Bevölkerung die Armut weit verbreitet ist, dann fällt es schwer, diese Tatsache nur auf kapitalistisches Wirtschaftssystem und weisse Vorherrschaft zurückzuführen. Wenn die Critical Race Theory an den US-Universitäten interveniert, alles von Weissen Geschaffene zu eliminieren, weil nur dadurch eine rassismusfreie Gesellschaft verwirklicht werden könne, dann wirft Kostner ihr vor, selektiv vorzugehen und und nur jene Argumente miteinzubeziehen, die mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen.
Bestätigt wird Kostner indirekt durch den karibischstämmigen US-Amerikaner Jason D. Hill, Philosophieprofessor in Chicago, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass Mitglieder der afroamerikanischen Mittelschicht „grosse und prosperierende Gemeinschaften aufgebaut haben“. Er findet die Vorstellung von den „hilflosen Schwarzen“, wie er sagt, „wirklich gefährlich“.
Was die afroamerikanische Bevölkerung in den USA erlebt hat, ist in anderer Form auch der indigenen Urbevölkerung widerfahren. Auch die First People, die Indianer in den USA, die in der Unabhängigkeitserklärung von1775 von den aus Europa eingedrungenen weissen Siedlern als „bloody savages“ (blutrünstige Wilde) bezeichnet wurden, fordern gesellschaftliche Anerkennung beziehungsweise die Einhaltung der in der Vergangenheit von den USA vertraglich gemachten Zusagen. Sie kämpfen um Respektierung ihrer Landrechte, ganz besonders wenn darauf Rohstoffe (Gold, Uran) gefundenen wurden oder eine Pipeline gebaut werden soll, und sind nur knapp einem Genozid entgangen. Bemerkenswert ist, dass die Eingewanderten und ihre Nachfahren das indianische Land, das sie annektiert haben, als ihnen von Gott zugewiesen, als „God‘s Own Country“, zu bezeichnen pflegten. Leichte Beute. Viele der ersten Kolonisten waren religiöse Flüchtlinge.
Plantagenwirtschaft
dort und „Manchester
Kapitalismus“ hier
Während der Kolonialismus in Afrika und anderen Weltgegenden in voller Ausbreitung stand, errichtete der Wirtschaftsliberalismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Europa eine Schreckensherrschaft. In der britischen Textilindustrie und dem Kohlebergbau ist sie unter dem Begriff „Manchester-Kapitalismus“ in die Geschichte eingegangen. Friedrich Engels hat die Verhältnisse in ihrer Krassheit beschrieben.
Die Opfer des Kolonialismus und der Sklaverei werden durch die Folgen der europäischen, weissen Wirtschaftsentwicklung kaum entschädigt werden. Aber die Befassung mit den Ereignissen hier und dort kann davor bewahren, sie unter dem Blickwinkel einer Schwarzweissmalerei zu betrachten, und dabei helfen, den Blick zu erweitern.
In seiner „Kritik der schwarzen Vernunft“ macht der kamerunische Historiker und politische Philosoph Achille Mbembe die erstaunliche Feststellung, dass die Gewalt des Kapitals, die viel zulange in den aussereuropäischen Ländern gewütet hat, heute „eine neue Klasse strukturell verschuldeter Männer und Frauen“ trifft. Damit dürfte eine hohe Zahl Weisser in Europa und den USA gemeint sein, die heute ins Prekariat, in eine „überflüssige Menschheit“ abgleiten. Mbembe fasst sie unter einem erweiterten Begriff „subalterne Menschengruppen“ zusammen.
Der Kapitalismus sei lange Zeit, schreibt Mbembe weiter, eine Methode gewesen, um die Ressourcen der Erde auszubeuten. Heute mache er sich daran, „sein eigenes Zentrum zu rekolonialisieren“, was er als „Schwarzwerdens der Welt“ umschreibt.
„Der Komplex des atlantischen Sklavenhandels, in dessen Zentrum die Plantagenwirtschaft in der Karibik, in Brasilien oder in den Vereinigten Staaten stand“, bilde „ein erkennbares Kettenglied in der Entstehung des modernen Kapitalismus“, erkennt Mbembe. Eine erstaunliche Aussage! Man muss vielleicht aus Afrika sein,um sie in dieser unmissverständlichen Deutlichkeit zu machen.
Mit den Weissen, gegen die die afroamerikanische Bevölkerung zu Recht schwere Anklage erhebt, kann also nur ein kleiner Teil von ihnen gemeint sein, der alle Fäden und Zügel der Macht in Händen hielt, um seine Interessen zu verteidigen. Während der Sezessionskrieg in den Vereinigten Staaten (von 1861 bis 1865) noch ausstand, hatte Karl Marx in der Alten Welt 1848 längst das Ausbeutungssystem in grossem Stil aufgedeckt und ihm den Kampf angesagt.
Immer mehr Menschen
durchschauen die Weltlage
und wehren sich
Richtig ist auch, dass in der weissen Bevölkerung in Europa zu allen Zeiten ein klares Urteil über die herrschenden Verhältnisse bestand, wenn auch zunächst nur in einem kleinen, dann aber wachsenden Teil. Der Aufruf zur Völkerverbindung hatte nie einen anderen Zweck verfolgt als die Verteidigung von Arbeitsrechten, Frauenrechten, demokratischen Grundrechten, Menschenrechten und damit allgemein für Menschenwürde überall auf der Welt,
Zum Beispiel verfasste der Ire Roger Casement einen Bericht für die britische Regierung über die sprachlos machende Brutalität im Kongo unter der Herrschaft des belgischen Königs Leopold II. Zuvor hatte er die nicht weniger abscheulichen Arbeits- und Produktionsverhältnisse unter den Kautschukbaronen am Amazonas untersucht. Die Verhältnisse waren also bekannt.
Auch Mark Twain hat Imperialismus, Lynchjustiz, Pogrome, Folter, Exekutionen im Kongo, in den USA, auf den Philippinen und anderswo in seinen weitgehend unbekannt gebliebenen politischen Schriften publik gemacht. Heute wird er wegen des N-Worts als Rassist angegriffen und sind einige seiner Werke nur zensurierter Form zugänglich oder werden aus Bibliotheken entfernt.
Weltweit entstehen
neue koloniale
Verhältnisse
Heute ist eher „Land Grabbing“ das Problem, wie der Autor und Umweltberater Fred Pearce recherchiert hat. Verstanden wird darunter Landdiebstahl beziehungsweise Aneignung und Bereitstellung von Gebieten in fremden Ländern für die Extraktionswirtschaft, Landwirtschaft und Viehzucht durch neue Grossgrundbesitzer und Konzerne. Diese Landname, durch die die örtlichen und indigenen Bevölkerungen oft vertrieben werden, erfolgt allzu häufig in Kollaboration mit der Politik und einheimischen Oligarchie wie zum Beispiel in Brasilien, wo Präsident Jair Bolsonaro durch perfide suprematistische Äusserungen aufgefallen ist.
Es ist eine Arbeit von enormer Tragweite, die Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten, um ihre Wiederholung in der Zukunft zu vermeiden. Immer mehr Menschen erkennen immer besser, was falsch gelaufen ist, und sind bereit, sich für notwendige Veränderungen zu engagieren. Die Konzernverantwortungsinitiative“, über die in der Schweiz am 29. November abestimmt wird, gehört dazu. Doch etwas läuft falsch. Während es richtig ist, dass wir uns mit lange vergangenen Zeiten befassen, übersehen wir was in der Gegenwart geschieht.
Mit einem erweiterten Blick auf die Weltlage würden wir erkennen, dass China im Begriff ist, einen globalen Kolonialismus zu betreiben, während Europa eben für seine Verfehlungen in der Vergangenheit zur Rechenschaft gezogen wird. Für seine Exportwirtschaft und die Ernährung seiner 1,3 Milliarden Menschen ist China auf Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte angewiesen und investiert daher in grossem Stil in Afrika, zieht es aber vor, von „wirtschaftlicher Kooperation“ zu sprechen. Das klingt besser, kommt aber auf das Gleiche heraus.Viele Länder in Afrika verschulden sich und geraten in Abhängigkeit von China. In Erinnerung an den europäischen Kolonialismus übersehen sie den neuen chinesischen. Es ist erstaunlich, wie wenige afrikanische Leader sich entschieden wehren.
Im Rahmen der Belt and Road Initiative, der sogenannten neuen Seidenstrasse, weitet China seinen Einfluss aus, ebenso in Brasilien, aber inzwischen auch in Europa, etwa in Italien und Griechenland. Angesichts ihrer prekären Finanzlage greifen viele Staaten dankbar nach dem Strohhalm, mit dem sie hoffen, sich über Wasser zu halten, und sind blind für die absehbaren Folgen. Wo die Grenzlinie zwischen Kolonialismus und Rassismus wie zwischen Kolonialismus und wirtschaftlicher Zusammenarbeit verläuft, ist offen. Das böse Erwachen steht noch bevor. Wir werden zu spät erkennen, was wir nicht gewollt haben.
29. Oktober 2020
In einem zweiten Teil mit demTitel „Kontroverse statt Zensur“, der am 5. November an dieser Stelle erscheint, kommt die Identitätspolitik in ihrem Umfang zur Sprache.