Über das Thema Atopie arbeiten Jörg Mollet und ich seit einem halben Jahr. Der Begriff ist nicht besonders gebräuchlich, dafür ist unsere Auseinandersetzung umso spannender verlaufen. In Zeiten der unaufhaltsamen Globalisierung bekommt das, was der Begriff meint, überhaupt erst seine eigentliche Bedeutung. Atopie bedeutet Irgendwo und drückt aus, dass vieles möglich ist, aber es nicht darauf ankommt, wo es geschieht.

Die Produktion findet heute im Zeitalter der erleichterten Verkehrs- und Kommunikationstechnologien irgendwo statt, heute um die Ecke, morgen vielleicht in Rumänien, übermorgen in einem Sweatshop in Bangladesh, wo immer die Wirtschaftsführer die günstigsten Konditionen antreffen, egal, wo es ist.

Alles zirkuliert

Nicht nur dies. Das Kapital wird nicht an einem festen Ort gehortet. Es zirkuliert im Netz und wird pausenlos verschoben, von Konto zu Konto, von Bank zu Bank, von Börse zu Börse.

Der Chatroom ist vielleicht das am schnellsten einleuchtende Beispiel für einen nicht wirklich existierenden Raum, den alle am globalen Chat Teilnehmenden trotzdem als durchaus real erleben.

Wir leben heute in unserem Alltag nach wie vor an distinkten, lokalisierbaren Orten. Aber der Datenraum lässt uns keine Wahl mehr, als uns auf völlig neue örtliche und räumliche Verhältnisse einzustellen. Unser Denken ist längst davon geprägt. Wir leben in einer analogen Welt, die meistens dort ist, wo unser Access zum Netz und damit der Zugang zur virtuellen Welt sich befindet. In unseren Gedanken, Vorstellungen, in den praktischen und kreativen Bereichen jedoch haben wir die Grenzen, die uns bisher auf Schritt und Tritt an den analogen Raum gebunden haben, überschritten und das Weite gesucht. Das „Weite“ ist hier im besten Sinn des Wortes zu verstehen, weil es besagt, dass alles jederzeit überall möglich geworden ist.

Irgendwo ist wie Neuland

Diese Entwicklung ist mit vielen Bedenken, aber auch grossen Freiheiten verbunden. Nur stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen. Wir betreten in unserem Bewusstsein Neuland. Der deutsche Soziologe Helmut Willke hat in seinem Buch „Atopia“ (2001) Vorarbeit geleistet. Jörg Mollet und ich versuchen jetzt, zusammen mit weiteren Autoren und Kunstschaffenden, das Thema zu konkretisieren. Welchen Einfluss übt das atopische Denken auf die Menschen aus? Wie gehen sie, also wir alle, die es gemerkt haben, mit der Tatsache um, dass wir uns in einer örtlich zufälligen, volatilen, ausgeräumten, eben atopischen Welt zurechtfinden müssen?

Geplant ist eine Publikation mit Textbeiträgen von Christine Kremers (Berlin), Martin Rohde (Solothurn), Michail Schischkin (Kleinlützel), Aurel Schmidt (Basel) und Kristin Schultz (Berlin) sowie einem Bildteil, den die Kunstschaffenden Maryna Markova (Berlin) und Jörg Mollet (Solothurn) sowie der Fotograf Andrey Chezhin (St. Petersburg) bestreiten.

Erscheinen und vorgestellt werden soll das Buch am 16. Mai 2018 im Neuen Theater in Dornach (Kanton Solothurn, Schweiz). Verbunden mit der Publikation ist eine Ausstellung in der Galerie Kremers in Berlin. Die Vernissage ist auf den 1. Juni angesetzt.