Die Zeiten sind düster, doch in der Spassgesellschaft ist nicht viel davon zu bemerken. Der Trubel geht unvermindert weiter. Es ist kaum zuglauben. Durchhalten wird in dieser Lage nur, wer sich einen empirischen, unvoreingenommenen Pessimismus zu eigen macht.

VonAurel Schmidt

Wie weiter? Manchmal fällt mir nichts ein.Wenn ich aus dem Fenster schaue, beobachte ich, wie draussen die Natur sich entfaltet. Was ich nicht sehe, ist eine gänzlich unsichtbare Welt aus Märkten, Räumen, Verkehrsdichteerhebungen, Ausgewogenheit, Wahrheit, aus Meinungen, Theorien, wissenschaftlichen, politischen, sozialen Ideen, die durch Agenten, Influencer, Multiplikatoren und andere Betriebsmacher unter das Publikum geschleust werden.

Alles zusammen ergibt ein Bild des Lebens, wobei „Leben“ alles umfasst, „was der Fall ist“, wie der Philosoph sagte. Es zeigt sich als Strom, in dem wir schwimmen und uns von Augenblick zu Augenblick wehren, fortgespült zu werden.

Ich möchte das Ganze sehen, erfahren, aber es gelingt nicht. Es hat ozeanische Dimensionen, verflüchtigt sich, zerrinnt wie eine Welle beziehungsweise verhält sich wie ein Kontinuum, das kommt, weil es geht, und das geht, weil es kommt. Hegel meinte noch, dass es möglich sein müsste, das Ganze zu erfassen und nannte es „das Wahre“, aber es ist inzwischen definitiv widerlegt. Das Leben, alles, was dir denken und effektuieren, ist nur die Realisierung eines Augenblicks, auf den ein nächster in neuer Form folgt und auf diesen ein weiterer und noch einer und so weiter, ein Clip, filmisch gesprochen ein Shot in einer Menge Footage.

Wer zur Sache kommen will, muss tiefer ansetzen. Machen wir also einen Versuch, etwa so: Das Versprechen eines glamourösen Lebensstils hält uns bei der Stange und ist doch nur ein schäbiger Versuch, ein Köder, um in die Falle der Leere und Öde gelockt zu werden. Warum aber nur? Weil Spass sein muss. Wer nicht mitmacht, stört die Gartenlaubenbehaglichkeit, die Trägheit des werbeversprochenen Neo-Biedermeiers. Es ist zum Davonlaufen. Aber wohin? Gleich um die Ecke und zurück zum Ausgangspunkt. Im Kreis herum. Kein Entkommen. Ja, wir sitzen in der Falle. Ja, wir sind angekommen, bevor wir fortgegangen sind. Gibt das nicht besonders treffend die Lage des modernen Menschen wieder? Nur wer den Verstand verloren hat, ist noch bei Trost.

Menschenmanagement

Für alles schien es eine einfache, nur leider irreführende Erklärung zu geben, einen Fahrplan, ein Regelwerk, dass es möglich sei, im Handumdrehen, mit zwei, drei Transaktionen, ohne Einsatz und Leistung ans Ziel zu kommen. Die künstlichen Versprechen von Wachstum, Erfolg, Aufstieg, Fortschritt, Wohlstand waren ein Schwindel, dem wir erlegen sind. Unterdessen kippten die Meere, Fischpopulationen verreckten massenhaft, und jetzt... Jetzt will Japan eine Million Tonnen kontaminiertes, bisher in Fässern aufbewahrtes Wasser aus der Reaktor-Havarie von Fukushima ins Meer einleiten. War dieser Unfall nur eine angeblich unvorhersehbare Episode, oder stellt er den Anfang eines neuen Kapitels in der apokalyptischen Geschichte des Anthropozäns? Man frage sich.

Saubere Atomenergie war einmal ein Versprechen. Heute entdecken wir, dass wir auf der Erde wie in einem Raumfahrzeug durch die Galaxien rasen mit einer zerstörerischen Ladung Atomabfällen an Bord, die uns noch Jahrhunderte, noch Jahrtausende in Unruhe versetzen wird. Dabei ist noch kein Wort über die Risiken eines Atomkriegs auf unserem Planetchen gesagt, vor denen der alte, weise Noam Chomsky, dieser Monolith in den trüben Fluten der Inanitäten, unermüdlich warnt. Ruhig schlafen kann in dieser Situation nur, wer das Zeug zum Verdrängungsweltmeister hat. Es kann auch eine Weltmeisterin sein, es ist kein Gender-Problem.

Zuletzt könnten die Phantasien aus dem Neuralink-Labor von Elon Musk, also die Einrichtung einer Schnittstelle von Hirn und Cloud mittels Chip, wenn sie einmal umgesetzt sind, einen direkten Entwicklungsschritt zum Überwachungsstaat aufzeigen. Ohne totalitäres Menschenmanagement wird sich die Zukunft nicht durchsetzen lassen. Es wird dann die Extermination der Menschheit in der Form, wie wir sie gekannt haben, sein.

Um dieser Perspektive in unserer tollen Spassgesellschaft etwas entgegenzusetzen, wird es unumgänglich sein, wenigstens zu kapieren, dass Ein- und Widersprüche, Paradoxien, überraschende Wendungen, Umschreibungen, Anspielungen, Verfremdungseffekten eine Methode zur Gewinnung von Erkenntnissen sind. Die methodische Diretissima ist das verkehrte Vorgehen. Nicht der direkte Weg ist der erfolgreichste, sondern es sind im Gegenteil Umwege, Schleichwege, Pfade durch das Maquis, Streifzüge aufs Geratewohl, Abweichungen, Kurswechsel. Ins Freie führt der Weg durch die Hintertür, nicht durch das Portal des Palasts.

Illusionen sind nicht erlaubt

Niemand kann, niemand darf so tun, als wäre alles in Ordnung. Nichts ist in Ordnung. Illusionen sind nicht erlaubt, Naivität auch nicht. Verständlich ist das alles nur, wenn wir den Diskurs umkehren, um die latente Botschaft zu lokalisieren. Dabei könnte es unumgänglich werden, den bereits umgekehrten Diskurs in seine ursprüngliche Version zurückzusetzen. Das geht dann, um ein Beispiel zu nehmen, so, warum es möglich geworden ist, auf das äusserste drangsalierte, entrechtete Menschen und Völker noch einmal zu diskriminieren und zu Aufständischen, Kriminellen und/oder sogar Terroristen abzustempeln, wenn sie sich für ihre verletzten Rechte wehren. Um klar zu machen: Das ist eine innovative Fragestellung, kein Ansatz für eine alternative Wahrheit.

Die Welt ist in einen Maelstrom gerissen. Nicht zufällig, es war gewollt. Oder vielleicht zutreffender gesagt: es ist nicht verhindert worden, aus Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit, diesen Dämonen des humanen und geistigen Lebens, aber auch aus Larifari, Feigheit, Niedertracht, Dummheit. Solange kein „militanter Humanismus“ (Thomas Mann 1936 gegen den Zeitgeist von damals) in Sicht ist, kein Wille, die eigenen Werte und Gewissheiten zu verteidigen, ist nichs zu machen.

Es gibt keinen Grund, zuversichtlich zu sein. Der Niedergang ist überall sichtbar, auch wenn viele Versuche das Gegenteil zu zeigen scheinen, und der Horror ist grösser als die Sprache, die ihn wiedergeben könnte.

In dieser Lage ist der Pessimismus eine valable, perfekt passende Einstellung, um das Schlimmste durchzustehen. Pessimisten sind gefasst. Sie leben ohne Glauben, ohne Hoffnung, aber auch ohne Enttäuschung und Erschütterung. Darin liegt ihre Unerschütterlichkeit.

Dass der Pessimismus ein „Stadium der Reife“ sei, wusste der Philosoph Ludwig Marcuse sehr gut. Richtig überlegt, vertreten Pessimisten eine positive Haltung, fast könnte man sagen: einen ebenso unvermeidlichen wie unvoreingenommenen, empirischen Pessimismus. Gut zu bedenken!

26. Mai 2021