Mehrmals habe ich in Tripolis den libyschen Künstler Ali Ezouik getroffen, und jedes Mal war ich von seinem beeindruckenden Werk und seinem flinken, hellwachen, mäandernden Denken und Intellekt beeindruckt. Höchstens zwei, drei Mal begegnet man im Leben einem solchen Menschen. Ihre Zahl ist nicht sehr gross. 2015 hatte ich zum letzten Mal von ihm gehört, seither ist jeder Kontakt mit ihm abgebrochen, und jeder Versuch, ihn wieder aufzunehmen, erfolglos geblieben. Die politisch unruhigen Zeiten in Libyen nach dem Sturz von Gaddafi geben Anlass zu vielen Fragen. Mit dem hier veröffentlichten Essay soll eindringlich an ihn erinnert werden.

Von Aurel Schmidt

Am besten stellt man sich Ali Ezouik vor, wie er plötzlich vor einem auftaucht und nach einiger Zeit ebenso plötzlich wieder untertaucht. Niemand weiss, woher er gekommen ist und niemand, wohin er geht. Er ist da und nicht da, anwesend und abwesend. Auch dort, wo er nicht ist, also durch Abwesenheit fehlt, ist er doch gegenwärtig, wenn nicht physisch-körperlich, so doch als eine Kraft, die seine Stelle einnimmt. Nah ist er immer. Ich muss oft an ihn denken.


Ezouik

Der libysche Künstler Ali Ezouik: Mit seinen enigamatischen Zeichen...


...macht er eine nicht materiell anwesende Welt sichtbar: Aquarell von Ali Ezouik.
Copyright Aurel Schmidt



Es kann manchmal, um das Werk eines Künstlers zu verstehen, hilfreich sein, wenn man versucht, seine Person zu skizzieren. Das Sprunghafte von Ali Ezouik, sein unangemeldetes Auftauchen und überraschendes Verschwinden hat etwas Rätselhaftes an sich. Seine Präsenz scheint weder an seine Person, noch an einen bestimmten Ort gebunden zu sein. Es ist etwas Enigmatisches an ihm. Bin ich sicher, dass ich es mit ihm, mit Ali Ezouik, zu tun habe? Oder mit einem Schamanen – aber das ist ein grosser Begriff. Oder vielleicht mit einem Djinn, einem Wüstengeist? Fest steht, dass in ihm und durch ihn sich eine geballte Kraft omnipräsent manifestiert, während die persönliche Verkörperung nur ein Nebeneffekt zu sein scheint.

Ich kann nicht anders über Ali Ezouik schreiben. So habe ich ihn erlebt, sprühend vor Witz und Einfällen. Wie in seinem Verhalten tritt er auch im Gespräch auf. In einem rasenden Lauf greift er die verschiedensten Themen auf, lässt sie fallen, wechselt von einem zum anderen, lässt alle stehen und geht auf einen neuen, nächsten Gedanken ein. Die Atmosphäre im Raum verharrt in einer angespannten Aufmerksamkeit. Die Luft ist durchdrungen von Geist, von dem man den Eindruck bekommt, er habe für Momente eine materielle Form angenommen. Das kann doch nicht möglich sein, denkt man. Doch, ist es. Nur beweisen kann man es nicht, weil es einer anderen Kategorie von Substanzen und Fluiden angehört, einem anderen Aggregatzustand.

In einem Gespräch mit Ali Ezouik in Tripolis habe ich erlebt, wie nach einem turbulenten Verlauf am Ende alles, worüber wir gesprochen haben, in einen ausgelassenen, fröhlichen ekstatischen und chaotischen Zustand übergegangen ist. Das Chaos ist wie die Ekstase eine Auflösung, innerhalb derer Neues entsteht. Das muss man so akzeptieren. Das Chaos rührt das Leben durcheinander, die Ekstase erreicht die höchsten Regionen des geistigen Lebens. Beweise dafür gibt es ebenfalls nicht. Wir nehmen einfach an, dass es so ist, und es genügt.

Zeit haben zum Sehen

Wir hatten in diesem Augenblick, so dachte ich, eine unsichtbare Grenze überschritten und waren in eine andere geistige Sphäre eingetreten. Der Geist war konkret – aber nicht materiell – geworden. Heute noch frage ich mich, wie es möglich war, aber dass es geschehen ist, daran besteht kein Zweifel. Auch da noch wäre es unsinnig, Beweise zu verlangen.

Ali Ezouik ist Künstler, dessen Bildfindungen mich stark berühren, ohne dass ich Worte dafür fände, um dieses Attraktion zu erklären. Vielleicht muss ich es auch nicht, wenn es mir gelingen würde, einen anderen Zugang zu finden. Vielleicht genügt es, die Augen aufzumachen und zu sehen, ein Sehender zu werden – ein "voyant" (ein Visionär), wie ihn der Dichter Arthur Rimbaud grandios beschrieben hat.

Doch vorweg muss ich eine Voraussetzung einräumen. Ali Ezouik ist als Urheber seiner Bildwerke auch ein Mann des Worts. Der Umgang mit Wörtern und mit Sprache ebenso wie das sich daraus ergebende Gespräch scheint für Ali Ezouik eine Lebensbedingung zu sein. Im Islam kommt nach meinem Verständnis dem Bild eine untergeordnete Bedeutung zu, schwerer wiegt das Wort, die Schrift, das heisst in einem übertragenen Sinn die Botschaft, das Gesetz, die Autorität. Wer weiss: vielleicht das Schicksal.

Schicksal ist das, was gesehen ist. Und schreiben ist der Versuch, dem Geschehen eine Form, eine Struktur, einen Status zu geben. Was geschrieben ist, ist ein für alle Mal festgehalten. Schreiben heisst soviel wie festschreiben, so, dass der Sinn, die Bedeutung nicht mehr entweichen kann. Das Geschriebene wird damit zum Inbegriff oder Behälter eines unabänderlichen Geschicks, zu einer Fügung, zu einem Fatum.

Nun zeigt aber die Polysemie, dass es eine Vieldeutigkeit des Worts und der Sprache gibt, die über den üblichen semantischen Rahmen hinausgeht. Das ist der geheimnisvolle Punkt, an dem in Ezouiks Werk ein kühner, aber unvermeidlicher Sprung aus der Sphäre des Worts in die Sphäre des Bilds erfolgt. Die Bilder, Farben, Formen, Rhythmen, Bedeutungen können jetzt frei flottieren. Das Wort hält die Welt zusammen, das Bild öffnet sie. Zwischen der Spannung, die zwischen beiden Bereichen besteht, stellt Ali Ezouik eine Verbindung her, eine Vermittlung. Man könnte so sagen: Er drückt sich in Bildern aus, aber seine Bilder unterliegen den strengen Gesetzen des Worts. Seine Bildschöpfungen sind ebenso präzis wie durchlässig. Die Zeichen sind genau gesetzt, sie folgen einem festgelegten Kanon, einem Repertoire an visuellen Details und Elementen, aber die verwendeten Teile, Einsätze, Mittel lassen die denkbar grösste Freiheit in der Interpretation zu.

Genaue Zeichen, offene Interpretation

Was wir von Ezouik in neuester Zeit zu sehen bekommen haben, sind Aquarelle. Die Farbe zerfliesst mit dem Wasser und verteilt sich auf der Fläche des Papiers, trotzdem muss man an eine Schrift denken. Was sieht man? Farben, Formen, Ornamente; vegetative und organische Fragmente, Pflanzen, Blätter, Früchte, Pilze, Fische; Gesichter, eine Hand, Augen, Fenster; Geräte, ein Messer. Ich hüte mich explizit, die Definitionen zu eng zu fassen. Denn Vorsicht: Diese Aufzählung stellt eine Eindeutigkeit her, die den neuen Werken von Ali Ezouik weder unterstellt werden kann noch darf. Die Deutungen bieten sich höchstens als Vorschläge an, um sich zu verständigen, aber genau genommen sind sie ohne Relevanz. Es kommt auf sie nicht an. Schon wenn man etwas ausgesprochen hat, ist es nicht mehr wahr, sagt ein asiatisches Sprichwort. Das Geheimnis von Ezouiks Werken liegt in einer magischen Tiefe, die keiner rationalen Interpretation zugänglich ist. Jede allzu enge Ausdeutung verwechselt den Mond mit dem Finger, der auf ihn zeigt. Anders ausgedrückt: An der Sache richtet die Interpretation nichts aus, sie ändert nur den Umgang mit ihr.

Man muss die Routinen des alltäglichen Lebens aufgeben und die Augen öffnen, so wie man die behaglichen, aber ausgeleierten Denkgewohnheiten aufgeben muss, wenn man hinter die Erscheinungen schauen will. Paul Klee, einer der Weg weisenden Künstler des 20. Jahrhunderts in Europa, hat den geheimnisvollen Satz geschrieben: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Das war Klees „schöpferische Konfession“, deren Essenz noch nicht einmal begriffen worden ist. Der Satz bedeutet, dass Kunst nicht die Aufgabe hat, die sichtbare, materielle, empirische Welt abzubilden – das können Fotografie, Film, Rasterelektronenmikroskope viel besser und genauer –, sondern Sichtbarkeit herzustellen. Zum Beispiel durch ein mit Wasserfarbe bemaltes Blatt Papier. Mit einem Mal sehe ich etwas, das ich bis dahin nicht gesehen habe, das überhaupt noch gar nicht da war. Dieser überraschende Begegnung löst eine Überwältigung aus, weil in ihr etwas übertragen wird, das als Neues in die Welt tritt und sie verändert, aber zugleich die Dimensionen der sichtbaren Welt erweitert.

Begegnung mit dem Wunderbaren

Was der Künstler mit Bleistift oder Aquarellfarbe und Wasser auf Papier oder mit Öl und Acryl auf der Leinwand aufträgt, tritt als Spur, die er hinterlässt, vor die Augen des Betrachters und wird für ihn sichtbar. Was er sieht, ist zunächst das Bild selbst (das Werk als Objekt, das zum Beispiel in einem Rahmen an der Wand hängt), nicht das, was zufällig auf dem Bild abgebildet ist (das Sujet oder Motiv, die Ikonologie). Das Kunstwerk ist eine Oberfläche, auf der das Malen stattfindet und die den Zugang zu einer verschlüsselten Botschaft herstellt, die gemeint ist. Das Sichtbare bleibt an der Oberfläche – auf dem Papier oder der Leinwand –, die Bedeutung ist unsichtbar. Sie verbirgt sich hinter dem als Medium verstandenen Werk und wird durch dieses übersetzt, übertragen, vermittelt, verbreitet.

Wenn ich die neuen Aquarelle von Ali Ezouik betrachte, kann ich förmlich die Stille hören und Unnahbarkeit wahrnehmen, die sich um sie ausbreitet. Hier spricht das Werk durch seine Violenz und Einzigartigkeit für sich selbst und in einer Sprache, die nicht mit Phonemen umgeht, sondern mit pikturalen Mitteln. Der geschäftige Fluss des Lebens ist unterbrochen, eine innere Fassung breitet sich aus. Ob das Bild noch eine Zukunft habe, fragte Ali Ezouik bei einem unserer Treffen in Tripolis (auch einer seiner vielen blitzartigen Einfälle). Die Menschen haben keine Zeit mehr zum Sehen, es fehlt ihnen „le temps chimique“ (Ezouik auf Französisch) für die Betrachtung, verstanden als tätige, aktive Sinnstiftung. Zu viele Eindrücke lenken sie ab; sie haben keine Zeit, alles aufzunehmen; eilen achtlos weiter...

Das ist tatsächlich die Krux mit der Kunst heute. Sie droht im doppelten Sinn zum Spektakel zu verkommen. Schwere Zeiten für Ezouiks Werk. Denn vor seinen Bildern muss man stehen bleiben; den Gang des Geschehens anhalten; den Fliessstrom unterbrechen. Das Geheimnis von Ezouiks Werken in ihrer stummen, aber strahlenden Rätselhaftigkeit besteht darin, dass sie den Menschen in eine andere geistige Dimension erhebt, in eine höhere Bedeutung, die nicht auf der Hand liegt und auch mit technischen Geräten nicht zu greifen ist, also eigentlich sich der verbalen Fassbarkeit entzieht, nicht aber ihrer Sinnlichkeit. Und doch möchte man wissen, welche Bewandtnis es damit auf sich hat. In dieser Unruhe und Irritation liegt der Grund, warum sie sich so stark einprägen. Es sind Botschaften aus einer anderen Welt, die sich durch ihre Fremdheit, Intensität, erotisierende Impulsivität, ja ihre Passion bemerkbar machen.

Während ich diese Sätze schreibe, kommt mir in den Sinn, wie Ali Ezouik in unseren Gesprächen wiederholt einzelne Wörter und Begriffe aufgriff, zum Beispiel „Anklang“, „Nähe“ oder „Heuschrecken“ (im Gespräch diesmal auf Deutsch). Bei der Heuschrecke sitzt der Schrecken tief. So hat jedes Wort eine mal begleitende, mal verstärkende Funktion, die über die semantische Kommunikation hinausgeht: Intonierung, Klang, Färbung, Bewegung, Heftigkeit, Geschmeidigkeit; die Worte schäumen, fliessen, brodeln; verbinden und erweitern sich; bilden neue Sinneinheiten. Ali Ezouik stand mit diesen und tausend anderen ähnlichen Fragen unter Dauer-Hochdruck.

Einmal schrieb Ezouik auf ein Blatt Papier: „Ursprüngliche Veranlagung, natürliche Anlage“ und schob mir den Zettel über den Tisch zu. Vordergründig ging es dabei ein Wortspiel mit „Anlage“ und „Veranlagung“ sowie eine Gegenüberstellung von „Ursprung“ und „Natur“. In Wirklichkeit war er im Begriff, ein Zeichen zu setzen: Vorsicht! Hochspannung! Explosive Kräfte am Werk! Dynamit im Einsatz!

Das gleiche lässt sich über sein künstlerisches Werk sagen. Die Aquarelle intonieren die einfache Message aus: Achtung! Hier ist ein Bild, ein Brennpunkt, ein Ereignis; hier liegt ein Potenzial vor.

Ali Ezouiks Werke sind aufrührende Mitteilungen, starke Erregungen, heftige Emotionen, die in knapper, konzentrierter Bildform transportiert werden. Das zu verstehen, ist die Hauptsache. Wenn das einmal erfolgt ist, ist alles weitere leicht zu begreifen.




18. März 2022