Der folgende Beitrag gibt eine Reise wieder, die Jörg Mollet und ich im Februar/März 2006 nach Libyen, besonders in den Südwesten des Landes (Messak settafet), unternommen haben. Ziel des Unternehmens war es, die dort in reichem Mass vorkommenden Felszeichnungen, die zum Weltkulturerbe der Unesco gehören, zu studieren.
19. Februar
Ein Holzstapel neben einem Waldweg, an dem der Zug vorbeifährt. Nebelschwaden im Laufental.
„Alles ist so, wie es ist, weil alles andere so ist, wie es ist“ (Johann Gottlieb Fichte, „Bestimmung des Menschen“).
Der schneebedeckte Gipfel von La Dôle über der Stadt Genf vom Flugplatz Cointrin aus.
Der Taxifahrer, der mich und Jörg Mollet nach Ankunft in Libyen vom Flughafen Tripolis in die Stadt bringt: „Germany good, Swiss good, America bumm! bumm!“
Abends bei Marc Sahli sagt der junge Libyer G. W., mit dem wir uns unterhalten: „Forget politics, make business.“ Er hat in Bern, Lausanne und Genf Business Management studiert.
20. Februar
Tourismus (der Kontakt mit ausländischen Reisenden) ist in Libyen eine mögliche Form der Kommunikation.
Viele Libyer haben sich im Ausland aufgehalten. Der Tourismus-Agent Ali Saidi kennt Basel, der „Wüstenfuchs“ hat einen Monat in Laufen bei einer Freundin verbracht.
Die im Ausland gemachten Erfahrungen haben sie später zu Hause angewendet. Wenn man mit ihnen spricht, darf man sich daher nicht über die Weltoffenheit wundern, die man häufig bei ihnen antrifft.
Stolz auf ihr Land sie alle. Gastfreundschaft hat eine hohe Bedeutung und geht über das Verdienen an den reisenden Fremden hinaus. „Sie sind keine bewegliche Bank", sagt einer – auf Deutsch.
Wenn wir auf der Strasse stehen bleiben, werden wir gefragt, ob wir Hilfe brauchen. Niemand will uns etwas verkaufen.
Viele sprechen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch. Der Drogerist, bei dem ich etwas für die bevorstehende Reise kaufe, fragt mich: „Parlare italiano? Vous parlez français?“
Zwischen Libyen und Italien bestehen enge Beziehungen.
Ein ungeschriebenes Gesetz besagt: Über Religion, Sex, Politik wird nicht gesprochen. Über Businbess schon eher.
Männer dominieren das Stadtbild. In den Cafés verkehren keine Frauen. Libyen ist ein freundliches Land, aber was die Gender-Beziehungen betrifft, bleibt das Land dem Augenschein nach islamisch.
(Später wird mir auffallen, dass alle unsere Kontakte immer nur zu Männern bestanden haben. Die Herren des Landes spielen sich aber sofort gross auf, wenn sie es einmal mit einer europäischen Frau zu tun haben.)
Alkohol ist verboten. Ein Glas Wein fehlt mir in den ersten Tagen, dann nicht mehr. Zum Fisch im Restaurant „Dolphin“ trinken wir Beck‘s Bier (alkoholfrei), was immer noch besser ist als Cola.
Die Bürokratie regiert das Land. Die zuständigen Beamten entscheiden nichts, aus Furcht, hinterher von oben gerüffelt zu werden (wenn sie zum Beispiel dem guten Bekannten des Vorgesetzten eine Busse verpasst haben). Sie haben eine Art entwickelt, alles in der Schwebe zu lassen. Wir wollen sehen... Wir werden alles tun... Bestimmt gibt es eine Lösung... Inshalla... Bis beim nächsten Mal das gleiche Prozedere von neuem beginnt.
Das lähmt das Land.
Das Verbot dänischer Waren nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung hat sich für zahlreiche libysche Händler als nachteilig erwiesen.
In einem Laden sehen wir Berge von dänischen Produkten im Hinterzimmer des Ladenbesitzers.
Er hat die Waren gekauft und bezahlt, jetzt bleibt er auf ihnen sitzen. Es ist ein Verlustgeschäft für ihn.
Das erzählt uns der Ladenbesitzer selber. Es ist also eine Information aus erser Hand. Andere Eindrücke beruhen auf Angaben aus zweiter Hand. Was hinter den Kulissen vor sich geht, hinter der Fassade der Öffentlichkeit, bleibt uns verborgen.
Die Libyer sind wegen der dänischen Karikaturen verletzt, aber nicht nachtragend. Eigentlich war es nie ein Thema für sie. Vielleicht liegen die Verhältnisse in Libyen aber auch anders als in anderen islamischen Ländern.
Sie heben nachdrücklich hervor, Libyer zu sein, also anders zu sein als zum Beispiel Marokkaner oder Ägypter.
Sie wissen besser über Europa Bescheid als wir über Libyen.
Der libysche Schriftstelle und Künstler Redwan Abushwesha bietet mir an, für 150 Franken einen Einführungskurs in den „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil zu erteilen.
Schlussfolgerung: Keine Pauschalisierungen, auch nicht im Guten. Die Grenze verläuft, wie immer und überall, quer durch. Es gibt kein Hier und Dort, sondern nur ein So oder Nicht-So beziehungsweise ein Anders.
Die Unruhen in Bengazi, von denen wir hören, scheinen auf Differenzen zwischen der Regierung und der Moslembrüderschaft zurückzuführen zu sein.
21. Februar
Auf der Fahrt nach Leptis Magna, der römischen Ruinenstadt. Libyen entdeckt den Tourismus, ist aber nicht auf ihn angewiesen. Mehr Tourismus wird befürwortet, wenn es ein sanfter Tourismus ist und er nicht ausartet wie in Tunis, wo die Menschen „semi-naked“ am Strand liegen. Es wird an einen kulturellen Tourismus gedacht mit den römischen Funden an der Küste, Ghadames und dem Akakus. Es soll keine Resorts geben „mit Sex und Alkohol“. „Es würde nicht mit unserer Mentalität übereinstimmen“, meint der libysche Fahrer Bilgasim Shlibk, der sich nicht wie ein Chauffeur benimmt, sondern wie ein Gastgeber, der uns seine Villa zeigt
Leptis Magna zählte zur Zeit der Römer 100‘000 Einwohner und war die drittgrösste Stadt des römischen Reichs. Besuch der Ruinen sowie der Villa Silin mit bemerkenswerten Mosaiken.
Römisches Theater in Leptis Magna
Die Schweizer Botschaft in Tripolis erteilt jährlich 6000 bis 7000 Visa für Libyer, die in die Schweiz reisen wollen.
An einer Einladung in der Schweizer Botschaft treffen wir eine libysche Frau, die mit einem Marokkaner verheiratet ist (was offenbar in ihrer Familie zu Differenzen geführt hat, möglicherweise deshalb, weil die Clan-Gesetze übergangen wurden).
Die Frau hat in den USA Englisch studiert, offenbar zur Zeit, als es in Libyen untersagt war, Fremdsprachen zu lernen. Daraufhin hat ihr Vater sie in die USA geschickt. (Wenn es dieses Verbot aber gegeben hat, müssen die Menschen fremde Sprachen im Ausland gelernt haben, was mit der Tatsache übereinstimmt, dass viele im Ausland waren.) In den USA hat die Frau auch damit begonnen, Deutsch zu lernen, weil sie fand, dass das eine exotische Sprache sei (sagt sie). Später hat sie in Deutschland ihre Deutsch-Studien fortgesetzt und den Marokkaner getroffen, mit dem sie jetzt verheiratet und nach Libyen zurückgekehrt ist.
Wir sprechen über Leptis Magna und die Felszeichnungen in der Wüste, die wir in zwei Tagen besichtigen wollen. Sie meint dazu: „That does not belong to our culture.“
(Später wird Redwan Abushwesha sagen: „Das ist Kurzsichtigkeit. Die Grenzen des Dorfs sind nicht die Grenzen des Verstands.“ Abushwesha hat sich viel im Ausland aufgehalten und ist ein wahrer Kosmopolit.)
Im Nationalmuseum sind alle Kulturepochen vertreten.
Ausserdem ist die libysche Gesellschaft multikulturell zusammengesetzt aus Libyern, Tuareg und Schwarzafrikanern.
Was an der Bemerkung der Frau irritiert, ist die Tatsache, dass sie interkulturellen Unterricht („cross culture“) für ausländische Angestellte erteilt.
Der Islam braucht Reformen, zum Beispiel in der Frauenfrage. Dazu die Frau: „Jawohl. Aber nicht jetzt.“ Aber wann, wenn nicht jetzt?
Die rational eingestellten Europäer sind möglicherweise eher in der Lage, Strukturen, Bedeutungen und den inneren Wert fremder Kulturen zu durchschauen, zu verstehen, zu würdigen und damit umzugehen, als dies allgemein gesprochen den Angehörigen fremder Kulturen möglich ist.
Warum? Weil Kulturen keine absoluten, ein für alle Mal feststehenden, unveränderlichen Grössen sind, sondern Entitäten, die sich entwickeln, wachsen, wandeln. Sie unterliegen den Gesetzen der Entwicklung und Veränderung. Sie sind vielleicht nicht unbedingt Mischungen nach den Grundsätzen der Thermodynamik, aber bestimmt Umbauten, fortschreitende Komplexe, entwicklungsfähige und sich entwickelnde Formationen.
Die Geschichte schreitet voran. Sie bleibt nicht stehen. Sie läuft davon, wenn man stehen bleibt.
Etwas Ähnliches hat der libysche Schriftsteller Ibrahim al-Koni gesagt: „Solange du wanderst, bis du mit deiner Seele verbunden. Wenn du stehen bleibst, geht sie weiter und entfernt sich von dir.“ („Die steinerne Herrin“)
Libyscher Rassismus. Ein Satz, den man häufig hören kann: „Es gibt zuviel Fremde in diesem Land.“ Gemeint sind schwarzafrikanische Migranten: Menschen aus dem Tschad, die von Süden nach Norden vordringen und versuchen, nach Europa zu gelangen.
Vor einem Jahr waren überall in der Stadt die Verkaufsstände von schwarzafrikanischen Händlern anzutreffen. Sie wurden innerhalb des vergangenen Jahres aufgehoben und die Händler vertrieben.
Die junge Generation scheint in ihrem Denken weltoffener zu sein als die ältere, die zurückhaltender und strenggläubiger ist.
Ein junges Paar geht durch die Strasse. Sie trägt ein Kopftuch, aber die beiden gehen Hand in Hand.
Eine Frau auf der Strasse trägt ein Kopftuch und ein Army Dress.
In den Kleider- und Handy-Geschäften kichern die jungen Frauen.
Das Kopftuch entwickelt sich zu einem Mode-Accessoire.
Das Frauenbild in Tripolis stimmt in keiner Weise mit demjenigen in den Geschäften, in der Werbung und in der Presse überein.
Etui-Islam könnte heissen: absolute Eindeutigkeit.
Jörg Mollet berichtet von der Uneindeutigkeit beziehungsweise Doppel- und Vieldeutigkeit im Denken der Chinesen. Alles ist möglich, denkbar, unbestimmt, vage, offen. Man muss aufpassen, sich anpassen und in jedem Augenblick die Situation schnell neu beurteilen und darauf eingehen.
Multiple Kultur wie multiple Identität. Das Vielfältige ist überall (sonst wäre es nicht, was es ist).
Private space (Marmor, weiss gestrichene Wände, kühle Innenhöfe) und publicspace (enge Strassen, Löcher in den Strassen, Improvisationen). (Wie überall.)
Die Menschen leben auf der Strasse. Die Strasse als „Wohnzimmer“ (Walter Benjamin im „Passagen-Werk“) - auch hier.
Strasse in der Medina von Tripolis
Die Menschen wollen nicht arbeiten, sondern Handel treiben. Das sind offenbar zwei Paar Stiefel.
Handel als Kommunikation, als soziale Tätigkeit. Die Medina ist das Anschauungsbeispiel dafür.
Es gibt mehr Waren in den Geschäften als Käufer.
Libyen ist wegen seiner Erdölvorkommen ein reiches Land. Es produziert keine Waren, sondern importiert alles: Schokolade-Biscuits aus Brasilien, Limonadepulver aus Malta, Maschinen und so weiter.
Wandmalerei: „Cleanness comes from Islam.“
In einem Innenhof mit Wandmalereien, die wir fotografieren, kommen wir mit einem Mann ins Gespräch, der in Neuchâtel gelebt und Maschinenbautechnik studiert hat. Er kennt Bern und Genf.
Er beschwert sich über die vielen Ausländer (aus dem südlich gelegenen Afrika, muss man ergänzen, um zu verstehen, was er meint). „Ils ne sont pas aussi propres que nous.“
22. Februar
Khalifa Mehdawi vom Art House sitzt an einem grossen quadratischen Tisch und hält Hof.
„Wir wissen mehr über Europa als Sie über uns.“ Es klingt Überlegenheit in seiner Stimme, aber er hat nicht unrecht.
Er war Revolutionsgeneral, Zivilingenieur und hat in der Schweiz im Gotthardgebiet Tunnelbau studiert.
„Kultur ist eine Sprache, die wir alle verstehen.“
„Es gibt keine kleinen oder grossen Länder. Surprise comes from everywhere.“
“Forget about religion. Have an open eye for other things.“
„I am fundamentally Libyan.“
„Live together, survive together.“
Über prähistorische und römische Kultur: „Wir haben kein Recht, sie anderen vorzuenthalten.“
„Andere Länder suchen ihre Geschichte. Wir haben eine.“
„We are fed up talking about guns, nuclear... We need alternatives.“
„We need no money, but qualified people.“
„Geschichte ist wichtiger als Biologie. Kunst ist wichtiger. Darüber können wir uns sofort verständigen. Nur Kulturen überleben.“
„We are tired talking about democracy, freedom, we must talk about human and cultural power.“
Das Art House betrachtet Khalifa als eine Art NGO. In Ghat ist ein Kulturzentrum eröffnet worden. Er hat 50 Kunstwerke gespendet.
„We need reality, not politics.“
Wir müssen uns beeilen, um rechtzeitig zum nächsten Treffen zu kommen.
Gespräch mit Imad ad-Din Ghanem aus Syrien, Geschichtsprofessor an der Universität Tripolis und Spezialist für Kreuzfahrer-Geschichte. Er hat acht Jahre in Bonn studiert.
Das Problem heute, meint er, heisst: „Zuviel Fanatismus, zu wenig Toleranz.“
Die Moslem haben 800 Jahre lang in Spanien in Eintracht mit Christen und Juden gelebt. Dass er über die Kreuzzüge entsetzt ist, die islamische Besetzung von Südspanien aber in Ordnung, stellt für ihn keinen Widerspruch dar.
Ghanem spricht von „Krise und Fiasko der Verständigung innerhalb des Islam. Der Islam muss modernisiert werden“, sagt er, „aber wie?“ Eine Antwort hat er nicht, aber die Frage ist gestellt.
Die gebildete Schicht in Libyen ist gegen jede Form von Fanatismus. Die grösste Sorge für Ghanem besteht darin, dass die Jugend keine Arbeit hat, also keine Perspektive. Das ist der Nährboden für Fanatismus.
Zum Palästinenserproblem: "Wer sind die Terroristen? Bestimmt nicht die Palästinenser." Die Hamas-Bewegung sieht er als Hoffnung. Es ist eine soziale Bewegung, die sich der Sorgen der Menschen annimmt.
Die Amerikaner reden von Demokratie, aber wenn die Palästinenser die Hamas wählen, erklären sie: Mit Kommunisten und Terroristen verhandeln wir nicht.
Zuletzt geht es aber nicht einmal um Demokratie, sondern um das praktische Zusammenleben der Menschen und darum, etwas gegen die Ungerechtigkeit zu tun. Das Schlimmste ist, dass wir nicht miteinander reden können. Im Irak und in Afghanistan hat es angefangen. Die USA haben im Krieg gegen den Kommunismus die Taliban selber produziert.
Ghanem bedauert, dass Europa, „unser letzter Verbündeter“, jetzt auf die Seite der USA getreten ist.
Dass es einen „Kampf der Kulturen“ gibt, ist unbestritten, aber er muss zurückgewiesen und eine andere Form des Zusammenlebens gefunden werden.
„Das Mittelmeer verbindet die Menschen in den angrenzenden Ländern.“ Auch der französische Historiker Fernand Braudel hat das gesagt. Das ist eine Perspektive, die neuen Dimensionen eröffnet, eine neue Hoffnung.
Die Aussage kann auch als langer, wechselvoller Beitrag des Landes an die Geschichte der Mittelmeerkultur verstanden werden.
23. Februar
Ein Sandsturm stürzt Tripolis um 16.00 Uhr in eine rote Nacht.
Wir fahren zum Flugplatz, aber der der Flug nach Sabha fällt aus. Keine Abreise. Zurück ins Hotel und ist Restaurant „Dolphin“ zu Fisch und Beck‘s Bier.
Morgen sollen die 800 Kilometer nach Sabha mit dem Auto zurückgelegt werden
Der (oft übersehene) erotische Charakter der Haare. Ist das der Grund für das Kopftuch im Islam?
„Safari“ (Suaheli, Reise) kommt von „safar“ (arabisch, Reise).
24. Februar
Was ist Realität? Gott? Mein Sofa?
800 Kilometer auf einer asphaltierten Strasse durch die Wüste. Unterwegs nach Sabha führt der Weg von der Tankstelle zum daneben liegenden Restaurant über einen Belag aus plattgedrückten Motoröl-Dosen.
Unser Begleiter Omar Howidi ist Libanese. Er hat viele Jahre in Deutschland verbracht, Jura studiert, war Seefahrer und ist dann in den Tourismusdienst getreten.
In der Antike stand der Name Libyen für Afrika. Es gab Europa, Asien und Libyen.
„Osama Bin Laden hat nichts mit dem Islam zu tun. Ausserdem wurde er von den USA gegen die kommunistische Besatzung Afghanistans ausgebildet", meint auch er.
Was heisst Gläubige und Ungläubige im Koran? „Gemeint sind diejenigen, die sich an eine Buchreligion halten oder nicht.“
„Die Hamas sind Extremisten“, sagt er – anders als Prof. Ghanem.
„Türkei gehört nicht zu Europa“, findet er, und zwar aus Mentalitätsgründen nichtg. Eine Aufnahme der Türkei in die EU wäre das Ende der EU - eine überraschende Aussage.
Über Männer und Frauen: „Frauen gehen nicht gern aus. Sie müssen arbeiten und haben keine Zeit, um ins Café zu gehen.“
Und überhaupt: „Die Männer, die in den Cafés sitzen, sind Gastarbeiter.“ In Libyen leben 12 Millionen Menschen, 7 Millionen Libyer, 5 Millionen Ausländer, die meisten von ihnen Gastarbeiter.
„An der Uni Tripolis studieren mehr Frauen als Männer. Das zeigt, dass die Frauen in diesem Land eine Zukunft haben.“
„Das Kopftuch hat mehr mit Mode als mit Religion zu tun.“
Mittagessen in einem Restaurant an der Strasse. Der Ventilator surrt und verteilt den Dampf, der aus der Küche kommt, gleichmässig im Raum. Lammspiess, Reis, Gurken- und Tomatensalat, dazu Cola oder Beck's Bier. Es geht hoch zu und her. Fünf Minuten, nachdem wir die Weiterfahrt angetreten haben, breiten sich Weite und Einötigkeit wieder als verlässlicher Begleiter aus.
Flaches Land. Kann es als Leere bezeichnet werden? Wenn nicht, was ist es dann, wie soll man es bezeichnen?
Stunde um Stunde geht die Fahrt durch die Wüste. Die Landschaft ändert sich kaum, die Eintönigkeit bleibt, oder was ist es, wenn es keine Eintönigkeit ist? Ununterscheidbarkeit der Landschaft. Es gibt keine Merkmale zur Distinktion oder Orientierung. Ich schaue aus dem Fenster, erinnere mich an die blühenden Mandelbäume, als wir heute morgen Tripolis hinter uns gelassen haben, und merke, wie ich sprachlos werde.
Das geht noch. Nur die Fassung nicht verlieren.
Leben wie eine Katze. Nichts wollen. Alles, was geschieht, geschieht sowieso.
Kakus al-Katussa heisst Katzenschwanz, erteilt Howidi mit breitem Lachen eine Lektion.
Orte des Lebens: Tankstellen. Es sind typischerweise Energie-Orte.
25. Februar
Abfahrt in Sabha.
Markt in Murzuk.
Leben und Alltag auf dem Markt
Unsere drei Begleiter für die nächste Zeit sind Abdou Rahman (Tuareg, spricht Französisch, Leiter, Koch und Übersetzer); Ahmed Saad (Fahrer I); Ramadan (Fahrer II).
Maqnussa. Wir suchen den Führer Khalifa Asuoki, der aber unterwegs in der Wüste ist. Lokaler Ersatzführer wird Ali Saidi Sarid, der in weniger als einer halben Stunde abmarschbereit ist.
Letzte Tankstelle. 250 Liter Benzin kosten umgerechnet 47 Franken. Billiger als Wasser.
Übernachtung in den Dünen von Murzuk.
26. Februar
Wadi Alamas 1 (Mittagessen) und 2 (Übernachtung).
Erste Begegnung mit der Hammada (Steinwüste).
Viele Bohnen, viel Knoblauch, mit den entsprechenden Auswirkungen.
27. Februar
Wadi Alamas 3 (Morgenexkursion). Auf dem Felsplateau, das vom Grund des Wadi erklettert wird, Zeichnungen: Frau mitVagina, Füsse. Unten an der Falaise (Felssteilwand): domestizierte Tiere. Es könnte ein Ritualort sein, aber man muss mit solchen Hypothesen vorsichtig sein. Später treffen wir auf beeindruckende Elefantenzeichnungen.
Wo die Füsse sind, da ist der Mensch. Die Zeichnungen können als Hinweis auf menschliche Präsenz gelesen werden.
Frauenzeichnung in der Wüste
Elefantenzeichnung, die an die Form des Felsens angepasst ist
Ein Zeichen setzen gegen die Natur beziehungsweise die Vergänglichkeit und Auflösung: Das könnten die Felszeichnungen sein, die wir studieren, aber ebenso könnte es auch das verrostete, an ein Skelett erinnernde Wrack eines Geländefahrzeugs sein.
Ein Zeichen gegen die Natur könnte in dieser Umgebung auch der Mensch sein. Aber der Mensch ist selbst ein Teil der Natur. Das stimmt – aber er nimmt darin einen bevorzugten Platz ein. Er kann über sich im Verhältnis zu ihr reflektieren. Er fährt zum Beispiel mit dem Geländefahrzeug durch die Wüste.
Der Mensch als Instrument, dessen sich die Natur zu ihrer Veränderung bedient, habe ich einmal geschrieben (fällt mir in diesem Augenblick ein).
„Don‘t fight against instruments“, hatte der Guru gesagt, mit dem Jörg Mollet vor Jahren in Indien unterwegs war.
Überblick von einer erhöhten Lage am Rand der Falaise aus über das Wadi zu Füssen unter uns und über das Land vor uns. Dort die Weite der Hammada, hier die Zeichnung als Mittel der Orientierung und Konzentration (Besinnung, zu Sinnen kommen).
Tiefe Wadis durchziehen die Wüste
Am eindrücklichsten ist das Fehlen jeglicher Geräusche. Die einzige Ausnahme macht der Wind, wenn er sich einmal erhebt.
Mittags ist es sehr heiss. Sich nicht wehren gegen die Hitze, das hilft nicht. Ausruhen im schmalen Schattenstreifen, den das Fahrzeug wirft.
Von Wadi Alamas nach Tin Einessnis: Mann mit zwei Händen. Rind und Kreis: See, Gehege, Falle. Rind mit geschmückten Hörnern. Bildgeschichten aus dem praktischen Leben vor Tausenden von Jahren.
Eine Viertelstunde vor Sonnenuntergang fangen die Farben an zu leuchten. Dann erlöschen sind innerhalb von Sekunden, fast wie das Licht in einem Zimmer, wenn es ausgeschaltet wird.
Den Ort, wo wir übernachten, nenne ich „Road‘s End“. Die Strasse hört auf, und die Fahrt geht über Geröll und Steine durch wegloses Gelände. Manchmal folgen wir einer Piste. Mehr als zehn, zwanzig Kilometer in der Stunde sind nicht zu bewältigen.
Bleibt nur die Frage: Wie orientiert sich unser lokaler Führer in dieser Gegend? Die Antwort ist verhältnismässig einfach: Er ist hier geboren und hat hier gelebt, bis die Behörden ihn in Maqnussa sesshaft gemacht haben..
28. Februar
Die Zeichen an der Falaise machen den Eindruck von „Tapeten“, sagt Jörg Mollet.
Abdou Rahman verkehrt als Tuareg frei über die Grenzen. Grenzen akzeptiert er als Tuareg nicht. „Ma bouche est mon passeport“, sagt er. Die Tuareg scheinen einen Sonderstatus zu geniessen.
Jörg Mollet erzählt den Begleitern: Wenn es in der Schweiz im Sommer um 10.00 Uhr 25° warm ist, gibt es nachmittags Hitzeferien.
Die Begleiter lachen. 50° ist für sie nichts Ungewöhnliches. Wie hält man so etwas aus? Wieder lachen sie.
Einmal im Jahr soll es Wasser in den Wadis geben.
Von Tin Einessnis nach Wadi Bedis.
Abends oft Wind. Es ist „la saison des vents“, sagt Abdou Rahman. Die Tuareg parkieren die zwei Autos im Winkel zueinander und stellen einen Windschutz auf, vor allem, um in der „Küche“ kochen zu können.
Zehn Stunden Nachtruhe.
1. März
In Erahar. Später Wadi Takabart-Kabort: Elefanten- und Nashorn-Szenen.
Wie hat sich die Zeichnung in 10‘000 Jahren entwickelt? So wenig wie Sex. Sex ist immer gleich; es gibt keinen anderen als der, den es und wie es ihn immer gegeben hat.
Kann man den menschlichen Körper irgendwann einmal anders wiedergeben als bisher? Kaum, auch wenn es stilistische Veränderungen gegeben hat. Akademisch (Ingres), expressionistisch (Kirchner), nach Art der „wilden“ Maler. Am Ende wird es nie etwas anderes sein als die Wiedergabe eines sofort erkennbaren menschlichen Körpers.
Hätte ich meine Zeit auf irgendeine andere Art, die ich mir nicht denken kann, besser ausnützen können?
Die Zeit fliesst vorbei, ob ich etwas dafür oder dagegen tue.
Aber etwas zu tun ist besser als nichts zu tun.
Bilgasim Shlibk fragte mich bei einem Nachtessen im Restaurant „Dolphin“ am Tag der verhinderten Abreise nach Sabha, ob ich eine Religion habe. „Do you have a religion?“
Ich antwortete etwas ausholend: Religionen versuchen, Antworten zu geben. Ich will aber keine Antworten bekommen, sondern Fragen stellen. (Weil Fragen eine existenzielle Energie sind.)
Shlibk nickte. Aber ich bin nicht sicher, dass er verstanden hatte.
Für viele Menschen ist Religion ein Besitz, keine Einstellung.
In der Wüste bist du mehr allein als irgendwo sonst.
Verloren in der Weite der Wüste, beschäftigt mit Selbstkonstitution. Du musst dich hier, an der Auflösungsgrenze, pausenlos selbst herstellen, um dich zu behaupten.
Viel Zeit zum Nachdenken. Nicht: „Warum bin ich hier?“, sondern: „Wie komme ich dazu, mir diese Frage zu stellen, wie ist es überhaupt möglich?“.
Ruhe ist eine Eigenschaft von Leere, Einsamkeit, Verlassenheit.
Wo Dichte ist, kann keine Ruhe sein.
Die Teefeuerstelle in der Wüste. Wenn Abdou Rahman am späten Nachmittag Tee zureitet, heisst das: Das Tagewerk ist abgeschlossen. Es wird kühler. Der Tag ist vorbei. Rückkehr in den eigenen Körper.
Die unerbittliche Gleichheit und Wiederholung der flachen Steinlandschaft, die nur manchmal von einem Wadi unerbrochen wird.
Endlose Steinwüste
Die Silhouette einer Akazie gegen den Abendhimmel.
2. März
Von Takabart-Kabort an den Dünen von Murzuk vorbei ein Stück weit zurück nach Wadi Imrawen.
Bei der Polizeistation mitten in der Wüste Wasser getankt.
Die Hände gewaschen: eine Wohltat.
Die Materialität des Sandsteins hat das Zeichnen in den „Felsen“ leicht gemacht.
Jetzt bröckelt der Sandstein, die Wadis füllen sich mit Sand und die Felszeichnungen gehen nach Tausenden von Jahren verloren.
Keine Sonne heute. Durchmischte beziehungsweise undefinierbare Farben – wie auf den Monotypien von Edgar Degas.
Geisterfahrt durch die Wüste. Mit einem Mal sind die Erscheinungen der materiellen, sichtbaren Welt verschwunden.
Überhaupt ist die schattenlose Zeit nicht so unerbittlich, wie es aussieht. Am Fuss der Falaise findet man immer wieder ein schattiges Plätzchen für ein paar Stunden, bis sich der Sonnenstand verschoben hat.
3. März
In Tahara (oder Tahaha, Tachacha ausgesprochen). Pathetisches Wadi, das als Filmkulisse für einen Western herhalten könnte.
Abends ist die Zeit, wo jeder von uns seinen eigenen Wege geht und sich zurückzieht, um die gesammelten Eindrücke des Tages an sich vorbeiziehen zu lassen und zu verarbeiten. Die Leere, die Eintönigkeit, wenn es Leere und Eintönigkeit sind, vergrössern die gesehenen Bilder um ein Mehrfaches.
Heute kein erfolgreicher Tag. Wir haben das Wadi Tidouma gesucht, das in der Literatur (zum Beispiel bei Rüdiger Lutz) angegeben bist. Der lokale Begleiter bringt uns in ein Wadi, das bei ihm Tidouma heisst und auf der Karte als Wadi Tilwa angegeben ist, in dem wir jedoch keine von den Felszeichnungen antreffen, von denen Lutz unter der örtlichen Bezeichnung Tidouma spricht.
Im Wadi Taleshout, das der lokale Führer so nennt, finden wir einen „homme-chien“, der bei Lutz angegeben ist. Durch Vergleich der vergrösserten Aufnahmen auf dem Display der Digitalkamera finden wir heraus, dass es einer der „hommes-chien“ ist, den Lutz im Wadi Tidouma gefunden hat. Nach unserem einheimischen Führer heisst das Wadi jedoch Taleshout.
4. März
Zweieinhalb Stunden im Wadi Taleshout nach Felszeichnungen gesucht, aber keine gefunden.
Abdou Rahman doziert: Menschen, die in Gegenden mit viel Schnee leben, „sont sexuellement faible“. Anders ist es in heissen (und trockenen) Gegenden. „La chaleur sèche est très forte pour l‘homme. Ceci est parfaitement connu. J‘ai étudié ça.“ Er lässt sich weder beeindrucken oder beirren noch umstimmen.
Wie könnte man das nennen? Geo-Rassismus.
Später erzählt Jörg Mollet vom Sinozentrismus, den er in China angetroffen hat.
Der eigene Standpunkt überwiegt alle anderen, immer, überall. Wer könnte sagen, dass er frei davon ist?
Mittagessen im minimalen Schatten von Kotflügeln.
Am später Nachmittag fahren Ahmed Saad und Ramadan mit dem lokalen Führer weg, um Wasser, Benzin, frisches Brot und Zigaretten einzukaufen. Nachts um 03.40 Uhr sind sie wieder zurück. Sie haben mehr 300 Kilometer über die Pisten der Hammada zurückgelegt.
Abends gewaschen und neue Unterkleider angezogen. Wie neu gefühlt.
5. März
Immer noch im Wadi Taleshout, aber nachmittags mit einem Einstieg an einer anderen Stelle. Hier finden wir endlich eine grosse Zahl schöner Zeichnungen.
Leider ist das Licht zum Fotografieren schlecht (zuviel Schatten auf den Zeichnungen). Deshalb beschliessen wir, Halt zu machen und hier zu übernachten.
Wilde Kamillen im Wadi Taleshout: ein Freudenausbruch.
Langer Besinnungsabend bei einbrechender Dunkelheit, während die Sterne anfangen sichtbar zu werden und zu leuchten.
Der Sternenhimmel, zu dem ich beim Einschlafen hinauf schaue. Das Universum liegt vor mir. Dagegen der begrenzte Raum mit dem Schatten der Falaise, wo wir die Nacht verbringen. Ich versuche zu verstehen, was das bedeutet, aber es gelingt mir nicht. Es ist zuviel. Ich atme tief ein und aus, tiefer als sonst. Mehr kann ich nicht tun. Jeder Versuch der inneren Konzentration ist ein Versuch, am Leben zu bleiben.
„You create your own reality.“
„Lebe im Verborgenen“ (Epikur).
„Nur ich allein weiss, dass ich glücklich bin“ (Aussage eines Zen-Mönchs).
Ich entkomme der Zeit nicht. Sie läuft ab, so oder so.
Die Frage ist nur, was ich mit der verbleibenden Zeit anstelle.
Sich gehen zu lassen. Wenn es sein muss, weil die Umstände so dominierend sind, dann ohne die Hoffnung aufzugeben.
Der Wind heult über die Hammada-Ebene. Keine Stille.
Wunderbare Bilderausbeute heute Morgen im Wadi Taleshout. Szene mit zwei wilden Kühen. Die Schnauze könnte von Pablo Picasso gemalt sein. Die Menschen, die diese Bildwerke vor Tausenden von Jahren geschaffen haben, waren Künstler in einem hoch stehenden Sinn. Sie hatten ein Schönheitsempfinden, das nur unter ästhetischen Gesichtspunkten verstanden werden kann.
Jörg Mollet und ich sind voller Bewunderung für ihre Schöpfungen, wenn wir darüber sprechen und versuchen, ihr Geheimnis zu ergründen.
Zeichnung eines Stiers
in höchster künstlerischer Perfektion
6. März
Der Wind macht nervös.
Hammada. Kein Lebenszeichen weit und breit, keine Distinktionsmerkmale. Oder ist der Wind eins? An den windstillen Tagen gibt es nicht einmal diese Möglichkeit der Unterscheidung.
Wadi Sharouma. Zufällig den „homme-chien“ entdeckt, der auf dem Buchumschlag von Axel und Anne-Michelle Van Albada abgebildet ist.
Dafür sind wir drei mühevolle Stunden über eine Holperlandschaft gefahren, aber die Fahrt hat sich gelohnt. Der Fund ist wie eine Beute oder Ernte, wie ein Sieg.
Zwei Beispiele von "hommes-chien"
7. März
Die ganze Nacht Wind. Er hat einen Namen: Shergi.
Eiskalt. Aber im Schlafsack ist es angenehm warm. Am Morgen muss ich die warme Wattejacke anziehen.
Fundamentalisms, Fanatismus, Faschismus. (Das geht mir so durch den Kopf.)
Abdou Rahman nimmt Stellung gegen die "Afghanen" (Taliban, Osama bin Laden) und gegen die „Mörder in Algerien“.
Lebens- und Orientierungszeichen in der Wüste: Steingräber, markierte Moscheen, Trampelpfade, Akazien, Moulla-moulla-Vögel.
Die auf dem Boden eingezeichneten Umrisse einer Moschee
Gestern nur einen „homme-chien“ gefunden (Wadi Sharouma), heute im selben Wadi, aber an einer anderen Stelle, drei Stunden erfolglos gelaufen. Dazu der Sandsturm, der nur einen Wunsch aufkommen lässt: sich in einen windstillen Winkel zurückzuziehen.
„Il faut manger vite à cause du vent et du sable“, sagt Abdou Rahman.
8. März
Eine Art Brettspiel, in den Sand gezeichnet, das Ahmed Saad und Ramadan austragen. Der eine spielt mit Steinchen, der andere mit Kamelscheissbollen.
Ahmed Saad (rechts) und Ramadan unterhalten sich bei einem in den Sand
gezeichneten Spiel
Dass die Zeit vergeht, heisst nicht, sie vergehen zu lassen. Etwas tun, um sie aufzuhalten; um zu versuchen, sie aufzuhalten; um etwas gegen ständig drohende Auflösung zu tun.
Langer Sandsturm gestern Abend. Am Ende verlegte die Mannschaft das Camp näher an die Falaise des Wadi Sharouma heran, wo der Wind weniger stark weht.
Die Verlegung bringt eine kleine Erleichterung.
In der Nacht lässt der Wind nach, heute heult er erneut über die Hammada.
Das Feuer, um das sich die Menschen abends lagern: auch ein Ort des Lebens.
Heute von Wadi Sharouma auf dem Weg zurück an den Dünen vorbei nach Norden gefahren.
Mit Faserpelz und Jacke unterwegs.
9. März
Am Vormittag einige besondere Zeichnungen im Wadi Messaknen gefunden, die wir wie alle anderen vermessen und fotografieren.
Nachmittags wird Jörg Mollet und mir klar, dass der lokale Begleiter streikt. Schwer zu sagen warum. Er fährt in eine Richtung los, und es stellt sich bald heraus, dass es nicht dorthin geht, wo wir hin wollen.
Auch ist das Benzin knapp geworden. Zu einer längeren Fahrt reicht es jetzt sowieso nicht mehr.
Es bleibt uns nichts mehr übrig, als zu beschliessen, hier die Reise abzuschliessen und umzukehren.
Abends Wadi Tiksatin: grossartige Schlucht mit einer Melkszene, einer der grossartigsten Felszeichnungen weit und breit.
cha houb (cha rauh, houb mit vorgeschobenem Unterkiefer ausgesprochen) heisst auf Arabisch „ich liebe dich“.
Auf Tamacheq/Tifinar heisst es tarrha.
Wir wiederholen die Wörter. Die Begleiter lachen. Wie kann ein Satz wie „ich liebe dich“ etwas Besonderes sein?
Behauptungen im Namen der Religion bedürfen weder einer Erklärung noch einer Rechtfertigung. Sie gelten widerspruchslos.
Beim Militär ist es das gleiche. Militärdiktaturen sind religiöse Verhältnisse.
10. März
Abreise von Messak Settafet.
Kurzer Halt in Murzuk.
Barjuj. Landwirtschaftliche Versuchsanstalt mitten in der Wüste, mit bewässerten (und gedüngten) Feldern, Kühen, Kamelen, Silos in der Ferne.
Maqnussa. Abschied vom lokalen Führer.
Im kleinen Laden unter dem Sonnenvordach im Ort besteht das Standard-Angebot aus Olivenöl, Seife, Limonade, Teigwaren, Tomaten, frischem Brot, Zigaretten.
Abdou Rahman kauft eine Lammkeule, die der Händler in einer Tiefkühltruhe vorrätig hält.
Um 19.00 Uhr breiten wir die Matten und Schlafsäcke im Sand aus. Hotel du désert.
Hochspannunsleitungen im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Autogeräusche in der Ferne. Rückkehr aus der Einsamkeit der Wüste, Wiedereintritt in die Zivilisation.
(Zuvielisation.)
Désert illuminé (Vollmondnacht).
Nur ich weiss, dass ich glücklich bin.
Nur ich weiss, dass ich einmal in Libyen gewesen sein werde.
11. März
Unterwegs Richtung Wau en-Namus.
Mittagshalt in einem Militärhotel mit Duschen, Toiletten mit Kloschüsseln, Spiegeln, fliessendem Wasser, TV und Video-Clips: eine höllische Halluzination; fast ein Folterkabinett.
Wau en-Namus: der Krater ist eine touristische Sehenswürdigkeit, aber trotzdem eindrücklich.
12. März
Zurück von Wau-en-Namus, auf dem Weg nach Sabha.
Drei Stunden Rüttelfahrt am Morgen, drei am Nachmittag.
Sechs Stunden am Tag durch die Wüste holpern ist die grösste Erfahrung.
Kein Raum. Nur Zeit – kommt es mir vor.
Dialektik und Yin/Yang zu einer Great Unifying Theory zusammensetzen (wenn möglich).
Abschliessende Einsicht: Jedes abschliessende Urteil vermeiden.
Vollmond. Die letzte Nacht im Freien. Ich bedaure, morgen in einem Bett zu liegen, in einem Hotelzimmer. In einem Gefängnis.
Die Nächte, die ich schlafend im Wüstensand verbracht habe, haben mein Leben verändert.
Der Schmutz am Körper ist jetzt unerträglich geworden. Aber das ist er immer, ob es nun nach drei oder achtzehn Tagen soweit ist.
13. März
Bis Sabha gefahren.
Geduscht.
Abschied von Abdou Rahman und Ahmed Saad.
Abends Flug zurück nach Tripolis. Ankunft im Hotel Teaba nach Mitternacht.
Ein Hotelzimmer, ein Bett – so etwas Blödes.
14. März
In Tripolis. Besuch bei der Schriftstellerin und Künstlerin Raja Bennagi.
15. März
Besuche beim Maler Salem Tamimi, Gespräch mit Redwan Abushwesha, Besuch im Atelier von Ali Abani, der dazu übergegangen ist, mit dem Computer Kunst zu machen.
Hotel Teaba in Tripolis: Die Frau an der Reception trägt ein Kopftuch, am Fernsehen laufen pausenlos (also nur) Videoclips. Eine singende (westliche) Frau räkelt sich auf einer Kühlerhaube. Zwei unvereinbare Extreme stossen aufeinander.
Oder bilden das Kopftuch und die „Haube“ eine Assoziation?
Wieder zurück in Tripolis, fallen uns die zahlreichen Graffiti an den Häuserwänden in der Medina auf. Wir sehen sie, nach den Felszeichnungen in der Messak-Wüste, mit anderen Augen. Das gilt auch für die römischen Mosaike in der Villa Silin. Überall haben die Menschen ihre Spuren hinterlassen. Die künstlerische Aussage ist nicht immer gleich bedeutend, aber unter den Graffiti in Tripolis finden sich erstaunliche Beispiele. Man muss sie nur richtig zu lesen verstehen.
Sie erscheinen in einem neuen Licht.
Die Stadt ist ein aufgeschlagenes Buch.
Felszeichnung aus der Messak-Wüste
Mosaik aus der Villa Silin
Graffito in der Medina von Tripolis
Frage, ob die westlichen Werte eine emanzipatorische oder auch nur befreiende Wirkung haben oder im Gegenteil die Meinungen (die manchmal veritable „Vorurteile“ sind) in der arabischen Welt bestätigen. Die individuellen Freiheitsrechte sind in der westlichen Welt ein grosser Fortschritt gewesen, in der islamischen Welt kaum. Die kulturellen Unterschiede liegen darin begründet.
Bedenklich ist in diesem Zusammenhang nur, dass die westlichen Werte in der westlichen Welt täglich diskreditiert werden. Business und Fun lassen sie obsolet werden.
16. März
Abflug von Tripolis über Genua und Turin nach Genf. Schnee auf den Alpen.
Ich habe den Anfang der Welt gesehen.
Aus einer Welt in eine andere. Überall Übergänge.
Wenn ich die Anschlagtafel in Cointrin mit den Abfahrtszeiten der Züge sehe, fühle ich mich sofort zu Hause.
Die Reise geht weiter.
Ich bin schon auf der nächsten.
© Aurel Schmidt
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