1957 erschienen Roland Barthes‘ „Mythologies“, im gleichen Jahr folgte eine Auswahl in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Mythen des Alltags“. Erst jetzt verlegt Suhrkamp die vollständige Sammlung.

Damals war das Buch eine Sensation, ein halbes Jahrhundert später möchte man einige Fragezeichen hinzusetzen.

Die „Mythologies“ waren eine Folge von „Feuilletons“ (wie wir heute sagen würden), in denen Barthes die bürgerliche französische Gesellschaft untersuchte. Themen waren das Beefsteak und die Pommes frites, Striptease, der Guide bleu, der Poujadismus (das war die Bezeichnung für den Aufstand des wild gewordenen Kleinbürgertums).

Das Doping war in den Gedanken von Barthes über die Tour de France damals schon ein Thema wie. Besonders im Beitrag über Astrologie wird die politische Absicht Barthes‘ im Geist, der zu „68“ führte, deutlich erkennbar. Die Astrologie überdecke nur die “realistische Evidenz der Lebensbedingungen“ der Menschen, schrieb Barthes. Es gehe darum, „das Reale auszutreiben“.

Barthes‘ politische und gesellschaftliche Analyse ist heute nur noch historisch von Bedeutung. Die Wirklichkeit hat alles, was einmal kritisierbar war, weit überholt. Zum Beispiel war das Doping damals ein Vergehen, heute ist es eine raffinierte Wissenschaft im Dienst des Sports, verstanden als Big Business.

Was damals für Überraschung sorgte, nämlich der Versuch, im Alltäglichen den mythologischen Teil zu erkennen, ist heute so geläufig, dass niemand mehr erstaunt sein kann. Der Mythos ist eine Botschaft. Ist er. Eine Rede. Auch richtig. So ist es. Heute allerdings ist der Mythos eine Massenhypnose gewichen. Was für eine idyllische Mythos-Vorstellung Barthes doch hatte – noch haben konnte!

Belastend, wenn nicht lästig, kommt jedoch hinzu, dass Barthes im gleichen Zug versuchte, eine Semiologie zu entwerfen und auf den Alltag anzuwenden, was dazu beitrug, dass der politische Blick, das Thema Mythos (der eigentlich eine Perspektive ist) und der semiologische Anspruch (der eine Struktur betrifft) sich ständig auf die Füsse treten. Vor 50 Jahren war alles ebenso neu, wie es aufhorchen liess. Nichts ist davon geblieben. Man wird gewahr, wieviel die Zeit weggeräumt hat...