Der Wutbürger ist am 31. Mai sogar in Istanbul angekommen. Menschen protestieren gegen die Zerstörung des Gezi-Parks am Bosporus, der einem prallen Shopping-Zentrum weichen soll. Wie immer und überall ist den Regierenden die soziale Verträglichkeit nicht viel wert, wenn die Kapital- und Geschäftsinteressen überwiegen.

Ein Park ist nun einmal keine substanzielle Einnahmequelle. Also schreitet die Polizei ein und der Konflikt eskaliert.

Das Einschreiten wird mit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung begründet wie anderenorts mit der Einhaltung der staatlichen Sicherheit oder dem Kampf gegen den Terror. Erstaunlich ist dabei, dass die gleiche Argumentation schon angewendet wurde, als kurz zuvor in Frankfurt die Polizei gegen die Demonstranten von Blockupy vorging. Menschen haben das Demonstrieren zu unterlassen, wenn die gewählte Politik ihre Entscheidungen getroffen hat. Das gehört zum demokratischen Usus, kann aber niemals heissen, dass demokratische Wahlen ein Blankocheck für autoritäre Politik sind. Was leider meistens angenommen wird.

Notebene gehört zum demokratischen Usus auch das Demonstrationsrecht – selbst wenn es mit den Interessen der Regierenden kollidiert. Wie in Stuttgart, wie auf dam Tahrir-Platz, wie auf dem Syntagma-Platz, wie auf der Puerta del Sol, zum Beispiel. Ist dies der Fall, muss die Polizei ihres Amtes walten. Um das dabei entstehende Dilemma von Praxis und Rhetorik aufzuheben, wird meistens zwischen guten (friedlichen) und schlechten (sogenannten randalierenden) Demonstranten unterschieden. Aber das ist eine durchsichtige Methode, die nach dem Grundsatz „divide et impera“ (Teile und herrsche, treibe einen Keil in die Opposition) sich bestens bewährt hat, seit 2000 Jahren, wie die lateinische Sentenz zu verstehen gibt.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyan Erdogan liess, offenbar ohne sich im Klaren zu sein, worum es geht, und ohne das Gebot der Verhältnismässigkeit anzuwenden, Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstranten einsetzen. Dafür wurde er bei seinem Besuch in Washington von Präsident Barack Obama zur Rede gestellt. Man lache! Es ist nicht bekannt, ob Erdogan ihn an den Polizeieinsatz gegen die Occupy-Bewegung am Zuccotti-Platz in New York erinnert hat. Tun können hätte er es.

Die Politik sieht weltweit verdamm ähnlich aus, weshalb der Schluss gezogen werden kann, dass die Politiker untereinander meistens mehr einverstanden sind, als es aussieht, und vor dem Mikrophon anders reden als hinterher im engen Kreis. Gerade jetzt erfährt die Öffentlichkeit, in welchem Ausmass die USA ihre Bürger und Bürgerinnen durch die National Security Agency bespitzeln lässt. Nirgends auf der Welt trauen die Staaten den Menschen über den Weg.

Sicher ist nur, was der grossartige Karl Kraus einmal gesagt hat, nämlich dass der Skandal immer erst dann beginnt, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.