Da der Markt nicht nur alles, sondern alles auch besser weiss, hat der Mensch gegen ihn keine Chance. Er muss sein individuelles Denken aufgeben und sich der angeblichen Weisheit des Markts vorbehaltlos ausliefern. Darin liegen die Logik des Neoliberalismus wie sein Erfolg begründet, allerdings nur, wenn es möglich ist, über Krisen, Crashs, Blasen, Stürme, Fluten hinwegzusehen. Die Menschen schauen gebannt auf die Monitore und verfolgen die Kursschwankungen. Es ist ähnlich wie bei der Wetterprognose. Eher als Schönwetterperioden erregen Unwetter Aufmerksamkeit.

Bleibt die Frage, wo der Mensch in diesem  Dispositiv steht, denn verschwunden ist er nicht. Er hat eine Transformation durchgemacht, sein Aussehen verändert und seinen Standort verschoben.
Seit der Markt die Demokratie ersetzt hat, ist aus dem mündigen Bürger von einst ein Marktteilnehmer geworden. Als Konsument, aber noch mehr ein Konkurrent (wörtlich Mitläufer) nimmt er teil am Wettbewerb, bei dem sich zeigen soll, wer von den Teilnehmern das Ziel zuerst erreicht beziehungsweise das Geschäft für sich entscheidet nach der Methode: The Winner Takes It All.

Der Neoliberalismus definiert, dass alle Lebensbereiche als Märkte zu verstehen sind. Das hat Konsequenzen. Auf dem Markt mutiert der Mensch zum Unternehmer seiner selbst oder muss sich dazu bringen. Er tritt auf als sein eigener Investor (der sich selbst kapitalisiert und rentabilisiert), sein eigener Produzent (der sich selbst zur Ware macht und zum Verkauf anbietet), sein eigener Sales Agent (der Handel mit sich treibt, das heisst sich veräussert) und zuletzt sein eigener Konsument (der sich selbst erfolgreich ein- und umgesetzt hat). 

Situative Persönlichkeitsarbeit

Aus dem Menschen ist ein modulares Subjekt geworden. Am Arbeitsplatz ist er ein anderer als in der Freizeit oder als Kunde im Supermarkt; als Verkehrsteilnehmer ein anderer als Bankkunde, der über einen Baukredit verhandelt; an der Bar ein anderer als auf dem Tennis Court; als Jogger ein anderer als im Liebesleben. Karriere, soziale Position, Mode, Frisur, Lebensstil, Freizeit, Sporttätigkeit, Schönheitsideale, Marken, Vorlieben wechseln laufend oder sind aufeinander feinabgestimmt. Durch Selbstbeobachtung und -kontrolle muss er sich unablässig in ein günstiges Licht stellen, sein Image pflegen und als Brand realisieren.

Zuletzt ist auch die Party kein Vergnügungsort, sondern die Teilnahme an ihr ein Akt, um auf sich aufmerksam zu machen, aber noch mehr, um gesehen zu werden. Der neoliberale Mensch muss also erkennbar sein, aber darf nicht auffallen. Ein klares Profil ist kaum erforderlich, aber Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit nach der wechselnden Mode umso mehr.

Der Wettlauf, der ein Wettbewerb ist, unterwirft den neoliberalen Menschen der permanenten Beobachtung und Bewertung. Auf diese Weise wird er zur Kenntnis genommen, aber auch in ein Standardmodell umgesetzt. Er lebt als Humankapital beziehungsweise Kapitalanlage weiter. Wer an diesem Wettlauf nicht teilnimmt oder ausgeschlossen wird, bringt es nicht einmal soweit. Er ist nullifiziert.

Das Beispiel für dieses unverzichtbare Verhalten ist der kürzlich verstorbene britische Sänger David Bowie, der sich unablässig ein neues Erscheinungsbild zulegte, um mit der Anpassung seiner Event-Identitäten an die Marktrationalität im Entertainmentgeschäft zu reüssieren.
Wer nicht wie Bowie in der Öffentlichkeit steht, hat immer noch die Möglichkeit, im Netz verschiedene Identitäten anzunehmen und auszuleben und trotzdem unnahbar, anonym und körperlos, zu bleiben, zum Beispiel in nächtlichen Chatrooms. Das Konzept des abstrakten, entmaterialisierten Markts entspricht dann dem Ort, wo der Körperlosigkeitswunsch in Erfüllung geht.  

Diese situative Persönlichkeitsarbeit ist eines der Themen in den Büchern von Philip Mirowski („Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist“, Matthes & Seitz) und Wendy Brown („Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört“,  Suhrkamp). Mirowski ist Wirtschaftswissenschafter und Wissenschaftshistoriker an der University Notre-Dame in Indiana, Brown Professorin für Politische Philosophie an der University of California in Berkeley.

Der Markt ist der Ort, wo das Soziale entfällt. Da er aber auch der Ort ist, wo das Schicksal Momentum bekommt, ist es naheliegend, dass vom Menschen nichts mehr übrigbleibt als eine soziale Spur, eine Funktion, und nicht einmal das. Er hat sich in eine Attrappe verwandelt, in ein graphisches Abbild von sich selbst, in ein Script, während das Original sich verflüchtigt hat. Beide Bücher machen das unmissverständlich klar.