Seit zwei Jahren sitzt der türkische Schriftsteller und Verleger Ahmet Altan im Hochsicherheitsgefängnis in Silivri ein, verurteilt zu lebenslänglichem Freiheitsentzug unter „erschwerten Bedingungen“. Mit dieser Bezeichnung wird in der Türkei eine Strafform bezeichnet, die die Todesstrafe ersetzet hat. Ich habe keine Ahnung, wo das Gefängnis liegt. Es ist auch egal. Die Tatsache genügt, dass in der Türkei des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan solche Verhältnisse überhaupt bestehen. Den vorliegenden Beitrag schreibe ich, um meine Solidarität mit den Gefangenen in der demokratisch gewählten Repressionstürkei auszudrücken.

Verurteilt wurde Altan wegen Verbreitung von „unterschwelligen Botschaften“. Was das heisst, weiss nicht einmal der Himmel. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist damit gemeint, dass Altan die Regierung kritisiert hat, was nach nationaler Rechtsprechung den Straftatbestand eines Putschversuchs erfüllt und ermöglicht, unbeugsame, kritische, aber die Ordnung der Diktatur angreifende Bürger zu kaltzustellen.

Die Türkei war nie ein Vorbild-Land für mich, aber wenn ich jetzt das Buch „Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis“ von Ahmet Altan (bei S. Fischer erschienen) lese, dann muss ich anerkennen, dass es noch eine andere Türkei als Erdoganistan gibt und dies in entscheidender Weise Altans Buch zu verdanken ist.

Erfahrung des Absurden

Altan verdient als Staatsgefangener Solidarität, aber auch Anerkennung als grosser Schriftsteller und universaler Geist Anerkennung, was sich zum Beispiel an den Literaturhinweisen erkennen lässt, die er aufzählt: von Epiktet und Tolstoi bis Canetti und Arthur Miller. Wir sind alle Teilnehmer an einer Weltkultur mit ihren unzähligen regionalen Ausprägungen. Für mich gehört von jetzt an auch Altan dazu.

In dem Buch beschreibt er den Alltag im Gefängnis, zum Beispiel die Schmerzen, die die Handschellen verursachen, die von den frommen Assistentinnen während einer medizinischen Untersuchung nicht gelockert werden und tief ins Fleisch einschneiden. Oder Altan gibt die Erzählung eines Menschen wieder, der unterwegs auf einer Busfahrt beschliesst, willkürlich auszusteigen und drei Jahre in einem einsamen Bergdorf als Lehrer zu verbringen und auf diese Weise seinem Leben einen Sinn zu geben. Ins Gefängnis gekommen ist er trotzdem. Er erhielt später das Angebot, entweder ein Polizeispitzel zu werden und ihm nahestehende Menschen an den Staatssicherheitsapparat zu denunzieren oder aber eine Gefängnisstrafe anzutreten und ein sauberes Gewissen zu haben. Oh rühmliche Tat! Oh geschundene Gerechtigkeit!

Besonders überraschend ist die Beschreibung von Richtern, die wegen der Anschuldigung eines Putschversuchs festgenommen wurden. Ihr alleiniger Fehler war, dass sie von von den eigenen Richterkollegen verpfiffen wurden, die ihre eigene Haut retten wollten. Mit ihrer völlig neuen Situation werden sie, die so viele Unschuldige verurteilt hatten, nun selbst nicht fertig. Und brechen zusammen. Während Altan, der Schriftsteller, der Träumer, der Ausgestossene im eigenen Land sich unglaubliche Befreiungsstrategien ausdenkt, um die totalitäre Situation, in die er geraten ist, zu bewältigen.

Diese Lage ist im aller zutreffendsten Sinn eine absurde Situation im Sinn der Philosophie des Absurden. Gemeistert werden kann sie am ehesten dadurch, dass ihr eine beinahe surreale Situation als Alternative entgegengehalten wird. Altan macht sich auf den Weg auf eine, wie er schreibt, „märchenhafte Reise meines Geistes“. „Nachdem ich alles, was mich an das Leben und an den Tod band, aufgegeben hatte, erlebte ich die schwindelerregende Erfahrung, ohne Flügel in der Unendlichkeit zu fliegen.“

Versetzt in eine hermetische Lebenslage

Im letzten Kapitel ist diese Methode auf das Eindrücklichste abgehandelt. Wenn man es genau nimmt, ist die Art, sich in einer ausweglosen Situation zurechtzufinden, wie es Altan versucht, natürlich in einem höheren Sinn zu lesen: Wie befreie ich mich aus einer ausweglosen Lage? Wie erziele ich eine gelingende Lebensführung?

Das ist eine Frage, mit der sich jeder wache Mensch auseinandersetzen muss. Im Gefängnis ist sie am radikalsten gestellt, und es kommt einer immensen Aufgabe gleich, wenn sie von einer extremen Voraussetzungen wie in Altans Fall ausgeht. Ahmet Altan zeigt diesen anspruchsvollen Weg auf. Wir wissen, worum es geht, wenn wir wissen und erkennen wollen, worin das Suchen nach einer selbstbestimmten, erfüllten Lebensform bestehen soll. Die meisten von uns, die in Freiheit leben – in einer relativen, oft fragwürdigen Freiheit, wie wir inzwischen wissen –, können abweichen, abwarten, Unterbrüche einschalten. Auch uns anders besinnen und in ein Etui-Dasein verkriechen. Unter den Umständen, wie sie Altan wiedergibt, ist das ausgeschlossen. Es geht nicht. Warum? Weil der Mensch vor eine Herausforderung gestellt ist, die keine Konzession kennt und keine erlaubt. Sie ist vergleichbar mit Jean-Paul Sartres „Geworfensein“, mit der illusionslosen Selbstsetzung in einer hermetischen, totalen, also totalitären Welt, die in diesem Fall das Gefängnis ist, aber auch sonst überall vorkommen kann.

Altan hat das ebenso beklemmend wie befreiend beschrieben. Man kommt davon kaum los.

Mit seinen 173 Seiten ist das kleine Buch ein grosses und grossartiges, dichtes, poetisches Werk. Alle Achtung.