Goethe erlebte während seiner Reise nach Italien 1786-1788 die denkwürdigsten Momente seines Lebens. Ist das heute noch aktuell? Es ist gut möglich, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt. Zum Beispiel den Kampf gegen die fugenlose Überwachung der Bevölkerung durch die sogenannte Sozialen Medien; gegen die Enteignung der Menschen durch die Finanzindustrie; gegen die Versuche der Agrar-Konzerne, die Kontrolle über die Welternährung zu erlangen. Aber es kann doch hin und wieder wunderbar beglückend sein, eine stille Stunde mit einem Werk von Goethe zu verbringen, weil es Distanz zur Schäbigkeit des aktuellen Weltverlaufs herstellt und die Aufmerksamkeit auf andere Themen ausserhalb der Kampfzone des Alltagsgeschehens lenkt.

Ich bekenne, manchmal gern in den Werken Goethes zu lesen. Warum nicht? Zur Zeit liegt die Beschreibung von dessen Italienreise in Griffnähe. Immer neue Facetten gibt es zu entdecken. In der Biografik und Literaturgeschichte wird das Werk als Überwindung einer Lebenskrise interpretiert, doch dann sollte auch sofort eingeräumt werden, dass es Goethe auf geradezu beispielhafte Weise gelungen ist, diese bewegende Zeit zu gestalten. Wie er es getan hat, das ist gerade das Bewegende dieser Lebensphase und das Lesenswerte an der "Italienischen Reise".

Goethe ist knapp 40 Jahre alt, wenn er aufbricht, eigentlich sich der Umstände halber mitten in der Nacht in Karlsbad heimlich davon schleicht. Etwas mehr als weitere 40 Jahre wird er nach seiner Rückkehr nach Weimar noch leben. Er hat den Punkt in der Mitte des Lebens erreicht und den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt vollzogen. Er ist jetzt der alle und alles überragende Klassiker, der sich bis ans Ende seiner Tage an die in Rom verbrachte Zeit erinnern wird, die er befreit von den Tagesgeschäften im Dienst des Herzogs Carl August von Weimar mit seinen eigenen Ideen und Projekten verbringen kann.

"Kein Behagen" im Leben

Die Zeit in Rom ist Goethes "rite de passage". Und als er den Kulminationspunkt erreicht hatte, gab ihm ein Gott zu sagen, was er dabei genossen hat. Oder leiden musste wie die Bühnengestalt des Torquato Tasso. Es war ein lange nachwirkendes schamanisches Erlebnis, das ihm doch keine Ruhe vergönnte.

Von einer Krise zu sprechen ist gerechtfertigt, weil Goethe Zeit seines Lebens gegen die anstürmenden physischen und psychischen Probleme anzukämpfen hatte. Seine labilen Stimmungen machten ihm zu schaffen, seine Depressionen (besonders nach Schillers Tod), seine Zahnschmerzen. Er ass gern, aber zuviel, und er trank noch mehr. Das Verhältnis zu Frau von Stein war nicht unbelastet. Todesfälle setzten ihm zu. Mehrmals stand er selbst am Rand des Grabs. Alle Schläge im Leben waren ihm Grund zur Selbstbesinnung, wie Frank Nager in seiner "Pathographie" Goethes ausgeführt hat. Zuweilen half ihm auch, wie Nager ebenfalls ausgeführt hat, ein "heiliger Egoismus" über die Klippen hinweg, was nicht zu wenig gesagt ist.

Dass er "kein Behagen" im Leben gekannt haben will, wie er mit 75 Jahren Eckermann gestand, mag zutreffen oder nicht. Sicher steht dagegen fest, dass die fast zwei Jahre in Rom für ihn eine gute und produktive Zeit waren, vielleicht die beste seines Lebens. Unterwegs nach Süden befallen ihn gelegentlich, meist gegen Abend, Zweifel, doch er lässt keine negative Stimmung aufkommen. Er "beschäfftige" sich dann, gibt er zu verstehen, "und so gehts vorüber".

Doch dann nähert er sich Rom, und die Erwartung steigt. Er fängt an die Tage zu zählen. "Heut ist Donnerstag und den nächsten Sonntag wirst Du in Rom schlafen nach dreysig Jahren Wunsch und Hofnung." (Weil er die Orthografie nicht beherrschte, zog er es vor zu diktieren.) Dann: "Noch zwey Nächte." Zum Schlafen zieht er sich nicht mehr aus. Schliesslich: "Morgen Abend also in Rom." So jubilidert er im "Tagebuch der italienischen Reise".

Endlich in Rom

Endlich, endlich ist er in Rom angekommen. Alles, was bis zu diesem Augenblick für ihn Schreibstube und Bibliothek war, verwandelt sich in nahe, atmende, lebendige Wirklichkeit. Die Kunstgeschichte wird für ihn zum Alltag, in dem er aufgeht; er arbeitet an "Iphigenie", "Torquato Tasso", "Egmont"; aber sein allererstes Interesse gilt der Kunst, den Bauwerken. Vom Schweizer Kunsttheoretiker Johann Heinrich Meyer aus Stäfa, der seit 1784 in Rom lebt und den er später als Professor an die Zeichenschule in Weimar beruft, lässt er sich in die Kunst der Antike und Renaissance einführen. Später wird er von der Zeit in Italien sagen, dass er angefangen habe, "wie neu erzogen zu sein", wo er bisher nur dachte, "wie neu geboren" zu sein.

Nicht alles ist aufregend, was Goethe ausbreitet. Manches ist weniger aufschlussreich, manches etwas mehr, etwa dass er die Sonntage oft mit der in Chur geborenen Schweizer Malerin Angelika Kaufmann verbringt, die sich zur gleichen Zeit in Rom aufhält. Wie Goethe aber in die Welt der Antike und der Renaissance eindringt, eintaucht, darin aufgeht – das gehört zum Eindrücklichsten, was es am Klassiker zu würdigen gilt. Er wird mit der Kunst vertraut, und "der Glanz der grössten Kunstwerke blendet mich nicht mehr", schreibt er, "ich wandle nun im Anschauen, in der wahren, unterscheidenden Erkenntnis".

Nicht viele Menschen können etwas Ähnliches von sich sagen und mit diesen Worten, mit dieser natürlichen Selbstverständlichkeit. Sie haben, kann man annehmen, eine Höhe des Lebens erreicht, von der aus sich das Dasein neu und anders entfaltet. Es kann ihnen nichts mehr widerfahren danach. Sie sind salviert.

Goethe hat es so charakterisiert, dass die von Tag zu Tag gemachten Erfahrungen ihn "in neue Verhältnisse setzten, wodurch mein Aufenthalt in Rom immer schöner, nützlicher und glücklicher ward. Ja, ich kann sagen, dass ich die höchste Zufriedenheit meines Lebens in diesen letzten acht Wochen genossen habe und nun wenigstens einen äussersten Punkt kenne, nach welchem ich das Thermometer meiner Existenz künftig abmessen kann", hält er fest, kurz bevor er die Rückreise antritt. Er hat eine unvergleichliche Sprache gefunden, um auszudrücken, wie er zu seiner exemplarischen Grösse gefunden hat. (Überraschenderweise hat auch Jean-Jacques Rousseau etwas Ähnliches bemerkt: Er wollte "das Barometer meiner Seele" ablesen.)

Neue Verhältnisse in Goethes Leben

Sollte dies alles des Lesens wert sein, auch heute noch, weil sich darin eine von Person, Zeit und lokalen Umständen getrennte, gleichsam menschheitsgeschichtliche Erfahrung manifestiert, dann gibt es dafür noch einen weiterer Grund, auf den genau die zuletzt zitierte Stelle mit einer versteckten Aussage hinweist: "in neue Verhältnisse gesetzt". Was heisst das?

Über das gesellschaftliche Leben, das Goethe in Rom führte, hat er wenig verlauten lassen. Man darf, man muss die "Römischen Elegien" zu Rat ziehen, um eine Vorstellung zu bekommen, wie er tagsüber seinen Studien nachgeht, ausdrücklich mit neuem Genuss, jeden Tag, aber nachts ihn Amor "anders beschäftigt" (Elegie V). Das ist fast das Äusserste, was er durchblicken lässt.

Gegen Ende seines Aufenthalts hatte Goethe eine Frau kennengelernt, mit der er nun im Bett liegt – er war bisher ja in seinen intimen Regungen eher unerfahren, scheu, linkisch. Seine Hand fährt über ihren Rücken, und zum ersten Mal beginnt er, den Marmor erst richtig zu verstehen. Und macht endlich den Knopf auf, wie man sagt.

Das alles hat nichts zu tun mit "nach warmer Bettluft schnuppernder Unsittlichkeitspolizei, wie Adolf Muschg zu beanstanden hatte ("Der weisse Freitag"), auch wenn es im Zeitalter von "Metoo" problematisch erscheinen kann, und schon gar nicht mit einem "vorübergehenden Glücksfall (in der Literaturgeschichte)", wie Horst Rüdiger gemeint hat. Etwas Anderes trifft zu: Der Gipfel an Erfahrungsmenge ist erreicht; Hälfte des Lebens, wie Hölderlin sagt; und mitten in das höchste Glück mischt sich ein eisiger Hauch des Schreckens. Von diesem Wendepunkt ist alles Weitere im Leben geschenkt, aber nur auf Abruf gewährt. Einen zweiten solchen Gipfel wird es nicht mehr geben.

Goethe muss das geahnt haben. Er hat bis an das Ende seines Lebens mit seiner Erinnerung an das zweifache Glück, das ihm in Italien zuteil geworden war, gelebt und zugleich diese Erinnerungen als etwas Erdrückendes wahrgenommen bis zuletzt.

Geheimnisvolle Frau

Doch wer war diese Frau, die Goethe begeistert hat und die in den "Römischen Elegien" nun durch die Literaturgeschichte geistert? Es muss jene Frau gewesen sein, die mit ihrer Mutter Goethe in Castelgandolfo begegnet ist. In der "Italienischen Reise", wo diese Episode kurz erwähnt wird, kommt sie nur als die "Römerin" vor, in den "Römischen Elegien" als "mein Mädchen" (Elegie XIV) beziehungsweise mit dem Decknamen "Faustine" (Elegie XVIII). Der italienische Literaturwissenschafter Roberto Zapperi hat recherchiert und ist davon überzeugt, dass sie es war. Mehr über sie ist nicht bekannt, was zum Teil auch damit zu tun hatte, dass Goethe aus verschiedenen Gründen sich vor der Geistlichkeit wegen des freien Liebeslebens und vor der Polizei aus anderen Gründest distanziert hielt und in Italien unter dem Pseudonym Filippo Miller verkehrte.

Dass er, der Überlieferung nach, Italien 1788 "mit Schmerzen" verliess; dass er bei seiner Abreise aus Rom und Rückkehr in den düsteren Norden vierzehn Tage lang weinte, wie er Caroline Herder ster gestand und sie es überliefert hat; dass er kurz vor der Rückkehr nach Deutschland überzeugt war, in jeder Trennung liege ein "Keim von Wahnsinn" das alles erhält mit Blick auf die Beziehung zur geheimnisvollen Faustine im Kontext mit einem Mal einen überraschenden neuen Sinn.

Vier Wochen nach seiner Rückkehr nach Weimar lernte Goethe Christiane Vulpius, Arbeiterin in einer Fabrik für künstliche Blumen in Weimar, kennen. Beide richteten sich schnell zusammen ein und blieben bis zu ihrem Tod im Jahr 1816 zusammen (in freier Ehe; geheiratet wurde erst 1806). Es war keine standesgemässe Beziehung, sondern eine skandalöse Liaison, die für viel Häme, Spott, Klatsch am Hof von Weimar sorgt. Beirren gelassen hat sich Goethe davon nicht. Er hat mit Christiane eine ehrliche, erfüllte Beziehung geführt.

Die Last der Erinnerungen

Die "Römischen Elegien" verfasste er zwischen 1788 und 1790; für die Erstveröffentlichung 1795 in der von Friedrich Schiller herausgegebenen Zeitschrift "Die Horen" wurden sie überarbeitet und vier allzu drastische ausgeschieden. Die erste Publikation in Buchform erfolgte in der dritten Gesamtausgabe von Goethes Werken in 13 Bänden 1806-1810 beim Verlag Cotta.

1827 erhielt Goethe vom Maler und Architekten Wilhelm Zahn Besuch. Als er durchblicken liess, dass er aus Italien komme, wurde er vom Diener gleich zu Goethe vorgelassen. Im Gespräch erkundigte sich dieser, ob der Besucher die Osteria alla Campana gekannt habe, was er bestätigte. Die deutschen Künstler in Rom würden sich dort treffen, man bekomme "Stuffato, eine Art Schmorbraten" zu essen, und der Falerner sei immer noch vortrefflich, wusste er zu berichten. Das sei, teilte Goethe dem Gast mit, der Ort gewesen, wo er die Römerin getroffen habe, die ihn zu den "Römischen Elegien" angeregt hatte. Wieder hatten die Erinnerung ihn am Schopf erwischt.

Ein Jahr später bemerkte Goethe in einem Gespräch zu Eckermann, nach dem Aufenthalt in Rom "nie wieder froh geworden" zu sein. Da war er bereits 79 Jahre alt und die Erinnerungen immer noch drückend wie eh und je. Er wird sich aber auch erinnert haben, was er in der "Italienischen Reise" geschrieben hatte, dass er lange genug in Rom habe leben können, "um auf den Punkt zu gelangen" – um sich auf der Stufe des Erreichten zu arrangieren, wenn auch ohne Hoffnung. So darf Goethes Aussage gedeutet werden, und was dabei zum Vorschein kommt, ist mehr, als man erwarten kann.

Es ist aber auch das bleibende Vermächtnis der "Italienischen Reise". Warum also vielleicht nicht doch gelegentlich einen Blick in das Buch hineintun? Bevor aktuellere, heissere Themen wieder auf die Agenda gesetzt werden.