Einfache, ernste Menschen. Urwald und weisse Städte wie Sucre. Einprägsame Bilder eines grossartigen, aber oft auch bedrückenden Landes. Reiche Lithium-Vorkommen im Blickfang des gobalen Investitionskapitals. 

Von Aurel Schmidt

Nicht grundlos habe ich kürzlich den Bildband des deutschen Fotografen Karl-Heinz Raach mit den Aufnahme aus Bolivien hervorgeholt. Wir hatten zusammen vor ein paar Jahren eine Reise kreuz und quer durch das Land vom Urwald im Tiefland zum Altiplano im Hochland unternommen. Auf jeder Aufnahme erkannte ich meine eigene Lebensspur wieder, und ich sagte mir: "Da war ich gewesen; das habe ich gesehen." Sie erinnerten mich an vieles, weil alles, was ich unterwegs gesehen habe, mein Leben, meine Biografie reflektiert, wenn auch nur einen Ausschnitt von vier Wochen daraus, wie das auf jeder Reise der Fall ist.

Ort, wo Thoreaus Holzhaus stand

"Evo Si": Zustimmung für den bolivianischen und indigenen
Präsidenten Evo Morales auf einem Bordstein an der Strasse.
© Aurel Schmidt

Die Zeit reichte aus, um einen nachhaltigen Eindruck zu gewinnen. Wir hatten abgelegene Gegenden des Landes besucht, wo wahrscheinlich wenige Fremde je hinkommen. Das war ebenso eine Pflicht für den Fotografen, der im Begriff war, das Land für eine Publikation in Buchform zu erkunden, wie es eine für den schreibenden Autor war, der ihn begleitete.

Der abenteuerliche Camino de la Muerte, die sogenannte Todesstrasse, die von La Paz (3600 Meter Höhe) nach Rurrenabaque (205 Meter) führt, die heute von wild gewordenen Motorradfahrern für einen Kick benützt werden, gehört zu den unumgänglichen Reisezielen des Landes wie der Salar de Uyuni, der grösste Salzsee der Welt, ein denkwürdiger Ort. Am Abend, als wir dort ankamen, glitzerten die Salzkristalle im Gegenlicht; am nächsten Morgen, beim zweiten Besuch, strahlte der See in einem gleissenden Licht, dass es nicht mehr möglich war, Oben und Unten zu unterscheiden.

Am Nachmittag begegneten wir auf der Weiterfahrt einem alten Ehepaar, das uns zu sich nach Hause einlud, uns Tee anbot und mit dem wir uns mit unseren rudimentären Spanischkenntnissen unterhielten, so gut es ging, assistiert von unserem Fahrer. In der Küche waren Kartoffeln zum Trockenen auf dem Fussboden ausgebreitet; im Hof gackerten ein paar Hühner; es war, als ob die Zeit still gestanden sei und wir in ein Zeitloch gefallen wären.

Der schwere, feierliche Ernst in diesem Land

Abends übernachteten wir in einem Gasthaus, wo wir erbärmlich froren, kein Wunder auf 3600 Meter Höhe. Erst um acht Uhr abends wurde im Essraum ein Feuer angezündet in einem Ofen, der aus einem in der Mitte zu einer Wanne entzweigeschnittenen Benzinfass bestand. Wärme spendete er kaum. Es wäre sonst tatsächlich eine Spende gewesen, eine freiwillige und wohltätige Wärmeabgabe.

Auch in Potosi am Fuss des Cerro Rico mit den Silberminen war es bitter kalt, ausser um die Mittagszeit, aber zum Glück gab es an der Plaza 6 de Agosto, ein einfaches Kaffeelokal, wo wir uns zwischendurch aufwärmen konnten. Beim Blättern im Buch stellten sich die Erinnerungen in einer langen Parade ein. Den vielleicht lebhaftesten Eindruck hinterliess mir in einer der vielen Missionsstationen im Tiefland eine Musikaufführung in einer reich geschmückten Kirche. Jugendliche, wahrscheinlich während einer Probe des örtlichen Jugendorchesters, spielten auf ihren verbeulten Instrumenten den "Canon" von Pachelbel mit einer ergreifenden Hingabe. Was war so besonders an diesem Musizieren? Das Stück? Nein. Es muss der tiefe Ernst gewesen sein, der sich in dem Gotteshaus ausbreitete, ein Ernst, ein Gleichmut, der sich bei jedem Schritt, den man in diesem Land unternimmt, bemerkbar macht, wie ein Schatten, der einem folgt.

Ja doch, wahrscheinlich ist genau dies die Essenz Boliviens: dieser stille, schwere, besonnene Ernst, der den Eindruck des Landes prägt. Man könnte es auch eine existenzielle Apathie nennen, einen tragisch gestimmten Lebensrhythmus, dem niemand zu entkommen scheint. Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob ich Menschen lachen gesehen habe. Viele können es nicht gewesen sein. Die Höhe erfordert viel Kraft, das Leben ist hart und muss bewältigt werden. anstrengend.
 
Präsident Evo Morales zur Abdankung gezwungen

Entsprechend ruhig, bedächtig erfolgt der Lauf des Alltags. Niemanden sieht man rennen, die Frauen mit ihren schwarzen, zylinderförmigen Hüten und in ihren bunten Kleidern sitzen auf dem Markt vor ihren Bergen von Waren, Brot, Süssigkeiten, Obst, Devotionalien, Taschen und Körben, für die es auch nicht viele Käufer zu geben scheint, fast unbeweglich, ergeben – während die Menschen in der westlichen Welt immer in Unruhe, Hast, Unrast, Eile, Erregung sind, geschäftig etwas zu fuhrwerken haben und nie zur Besinnung kommen.

In diesem Bild des gesellschaftlichen Lebens, das an ein Filmstill denken lässt, ist der Augenblick in seiner Totalität aufgehoben. Die in die Weite ausgebreitete, kaum von menschlichem Eingriffen gestaltete Landschaft hat etwas Drückendes, Ergebenes mit ihrer erdbraunen, stumpfen Farbe.

Ich denke mit grosser Liebe an die einfachen, stillen Menschen und an das grossartige, beeindruckende Land — gerade jetzt, wo von dort bedrückende Nachrichten eintreffen und die Medien unendlich oft wiederholte Informationen verbreiten. Der erste indigene bolivianische Staatspräsident Evo Morales ist vom Militär zur Abdankung genötigt worden, genauer gesagt von Oberbefehlshaber Williams Kaliman Romero. Seit Jahren unterstützen die USA das Militär, ebenso oppositionelle Gruppierungen wie das Santa Cruz Civic Committee in den vier östlichen Provinzen, und versuchen, das Land zu destabilisieren. 

Nach der Präsidentschaftswahl vom 20. Oktober dieses Jahres wurde Morales mit 47 Prozent und einer Differenz von 10,5 Punkten gegenüber dem Zweitplatzierten, dem ehemaligen Präsidenten Carlos Mesa, zum Sieger erklärt. In Bolivien gewinnt eine Wahl, wer in der ersten Runde einen Stimmenanteil entweder von 50 Prozent plus oder über 40 Prozent sowie zehn Punkten Vorsprung auf den Nächstplatzierten erreicht hat.

Wie durch eine glückliche Fügung konnten die (westlichen) elektronischen Medien mit einem Mal Bilder von Menschen zeigen, die gegen Morales demonstrierten, ihn als Diktator denunzierten und das Heil des Landes in seiner Absetzung sahen. In solchen Fällen interessieren sich die Medien meistens unerwartet schnell für ein Land wie Bolivien, das sonst kaum einer Erwähnung wert ist.
 
Seither hat die nach dem Sturz von Morales eingesetzte Regierung in La Paz einen Haftbefehl wegen "Terrorismus" und "Unruhestiftung" gegen den früheren Präsidenten erlassen. Das Land soll wieder auf westlichen Kurs gebracht werden. Morales ist nicht unantastbar, die Umstände sehen jedoch verdächtig danach aus, in Bolivien Verhältnisse herzustellen, wie sie erfolglos in Veneruela versucht wurden.

Reiche Lithium-Vorkommen

Nur wenige Menschen wissen genau, was geschehen ist und was sich hinter den Fernsehkameras wirklich abspielt. So viel lässt sich aber sagen. Erstens: Bolivien ist reich an Lithium-Vorkommen, die wichtig sind für den Bau von Batterien, auch für grüne Elektroautos. Also ein verlockendes Geschäft, das winkt. Zweitens: Morales wollte durchsetzen, dass ein bolivianisches Unternehmen den Auftrag für die Extraktion erhält und das Lithium im Land selbst verarbeitet wird. Dass dies nicht unbedingt in der Absicht des globalen Kapitals liegt, ist aus anderen vergleichbaren Beispielen bekannt.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt. Das weltweit operierende globale Kapital ist in reichen Mengen vorhanden und auf der Suche nach geeigneten Anlagemöglichkeiten. Zugleich will es, weil es erkannt hat, dass das Karbon-Zeitalter zu Ende geht, für seine Zukunft vorsorgen und durch Investitionen in grüne Technologien seinen Ruf verbessern.
 
Die Lithium-Vorkommen in Bolivien eignen sich wunderbar für diese neue Strategie, bei der es kaum um Massnahmen gegen die Erderwärmung und ökologische Überlegungen geht, sondern um die Ausbeute von und den Handel mit Rohstoffen durch Banken, financial groups und Investoren. Diese Angaben stützen sich auf verschiedene Quelle, aber vor allem auf Angaben des (alternativen) Ökonomen F. William Engdahl beim kanadischen Newsportal "GlobalResearch". 

Wenn man Engdahl liest, muss man sich sofort fragen, ob es sich bei seinen Überlegungen nicht um eine von vielen heute grassierenden Verschwörungstheorien handelt. Andererseits ist Engdahl einer der wenigen wirklich unabhängigen, angesehenen Journalisten, die gegen den Betonblock der konformistischen Informationsverbreitung anschreiben und eine alternative, oft unvertraute Sicht der Dinge anbieten. Er veröffentlicht regelmässig beim Portal "New Eastern Outlook", ausserdem bei "GlobalResearch". Beide stehen quer zur täglichen Nachrichtenflut. Fast immer macht es Sinn, was man bei ihnen erfahren kann, anders als bei den Mainstream-Medien. Man versteht etwas besser, was los ist.  

Noch einmal muss ich an die stillen, ernsten Menschen in Bolivien denken, denen meine Sympathie gehört – und meine Anteilnahme. Der Verdacht, dass sie leer ausgehen und wie so oft in der Geschichte hintergangen werden, ist nicht ganz unbegründet.

 
21. November 2019, ergänzt 22. Dezember 2019