Warum nochmals auf die Überwachungsthema eingehen? Weil das Ausmass und die Verfeinerung der Technologien ein nie dagewesenes Ausmass erreicht haben. Wurden bisher Identitäten und Handlungen getrackt, dringen die unternommenen Versuche jetzt tief in das Denken der Menschen ein und sind im Begriff, es zu entschlüsseln.

Von Aurel Schmidt

Alle könnten es wissen, wenn sie wollten. Jeder unternommene Schritt, jeder Klick in den elektronischen und Sozialen Medien wie Postings, Chats, Suchanfragen, Einkäufe von Schuhen oder Babynahrung im Netz hinterlässt eine Datenspur und verfeinert das Profil des Users. Warum wird das widerspruchslos hingenommen?

Zum Beispiel trackt beziehungsweise zählt und registriert Apple weltweit die Schritte von 800 Millionen Menschen, die mit iPhone einen Pedometer benützen. Adrian Lobe, Politikwissenschafter und Journalist, der regelmässig über digitale Technologien schreibt, erwähnt diese Zahl in seinem Buch "Speichern und Strafen" (C. H. Beck Verlag), in dem er zum Beispiel Facebook als "Statistikbehörde" bezeichnet.

Statistik ist die Grundlage jeglicher Erforschung des menschlichen Verhaltens. Wenn die erhobenen Daten in eine strukturierte Ordnung gebracht werden, ist der Mensch wie ein Glas Wasser fixiert. Niemand entgeht der anonymen und totalen Überwachung. Pech für die Gutgläubigen, die in ihrer bodenlosen Ahnungslosigkeit meinen, sie hätten sich nichts vorzuwerfen. Im Netz ist jeder verdächtig. Und "justiziabler Beifang" in beliebiger Menge bleibt in den Netzen hängen – vorläufig. Wenn jedoch wie heute fast täglich neue Handlungsweisen justiziabel werden und in Straftaten umgewertet werden können, dann bekommen wir es mit einer Entwicklung zu tun, die uns zu denken geben müsste. Aber es nicht tut.

Alles das ist bekannt.Warum also noch einmal auf dieses Thema eingehen? Weil die Entwicklung unverhältnismässig viel weiter vorangekommen ist, als es scheinen will. Nicht nur in China mit seinem Social Scoring. Lobe deckt in seinem Buch das Ausmass des Trackens und dessen Folgen mit erschreckender Klarheit auf. Das Smart Home hat sich in einen "Hausarrest" verwandelt, das Datennetz in ein "Datengefängnis" – und man möchte hinzufügen: in dem wir uns behaglich eingerichtet haben. Viel Vergnügen!

Soweit wie möglich meide ich Facebook & Co., aber immer ist es nicht möglich. Im Netz gibt es keine Verstecke. doch vielen Menschen ist das egal. Zugegeben habe ich manchmal den Eindruck, von einer Community ausgeschlossen zu sein. Aber das geht schnell vorbei.

Bisher wurden meistens überwiegend Metadaten abgegriffen und ausgewertet. Längst jedoch reichen die Möglichkeiten viel weiter und wird zum Beispiel das Gesicht wie ein Text oder ein Code gelesen (Facebook hat nicht aus einem launigen Einfall seinen Namen gewählt). Wie in der Vergangenheit die erkennungsdienstlichen Fahndungsfotografien der Polizei zur Feststellung der Identität diente, hat das Gesicht heute die Bedeutung eines Passworts erhalten, und mehr als erwünscht, verrät es Verhaltensweisen, Emotionen, momentane Stimmung, Nervosität, Gesundheitszustand, Präferenzen, Neigungen, Absichten seines Trägers. Täglich werden die Methoden verfeinert, um dem Innersten des Menschen auf die Spur zu kommen, und wird die Menge an Erkenntnissen in Algorithmen transferiert. Es ist eine beiläufige Erscheinung des Buchs, dass darin alle paar Seiten von einem neuen Programm, einer neuen App die Rede ist, mit denen der User unter dem Versprechen eines Vorteils infiltriert und ausspioniert werden kann.

Das letzte Refugium des Privaten ist bedroht

Was jetzt stattfindet, ist der invasive Versuch, tief in das Denken des Menschen einzudringen und es zu entschlüsseln. Was führt einer da im Schild? Ein Lächeln, auf der Stelle finden die Algorithmen heraus, dass es ein aufgesetztes Lächeln ist, und der Betreffende wird zur Seite genommen und einer Befragung unterzogen. Alles kein Problem. Das ist das Neue. Verstehen Sie? Niemand kann heute meinen, "ausserhalb seiner digitalen Repräsentation zu leben", wie Lobe sagt.

Aber was ist ein falsches Lächeln? Wie muss ein Lächeln, um bei dem Beispiel zu bleiben, beschaffen sein, damit es nicht auffällt oder Verdacht erregt? Was ist dagegen ein normales Lächeln? Was ist überhaupt eine Norm, was normal, normativ?

Darum geht es nunmehr: um die Definition von Normen in unserem schönen, neuen digitalen Universum, und ob die Beurteilung eines Menschen Sache einer individuellen Einschätzung sein soll oder die Entscheidung von immer sophistizierteren Algorithmen, also eines maschinellen Prozesses getroffen wird.

Lobe hält sich an den französischen Philosophen Michel Foucault, namentlich an dessen Untersuchung "Überwachen und Strafen" ("Surveiller et punir", 1975, die Ähnlichkeit der Buchtitel ist kaum unbeabsichtigt). Foucault zeigte darin, wie Verhaltensnormen bisher durch institutionelle Einrichtungen wie Schule, Fabrik, Kirche, Krankenhaus, Kaserne, Gefängnis definiert und antrainiert wurden.

Heute ist das überholt. "Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir von automatisierten Systemen abgeurteilt und bewertet werden", schreibt Lobe. Von Foucaults Biopolitik sind wir zur algorithmischen Gouvernementalität übergegangen. Erhobene Häufigkeits- und Durchschnittswerte und Merkmale werden in Algorithmen umgesetzt und ergeben einen normsetzenden Menschentypus. Alles hängt dann davon ab, wie der einer Überprüfung unterzogene Mensch mit ihm übereinstimmt oder davon abweicht und wie sehr. Der kleinste gemeinsame Nenner wird zum Kriterium der Erkenntnis, die geringste Abweichung zur Grundlage von Verdachtsmomenten. Menschliche Entscheidungen können fehleranfällig sein, aber maschinelle nicht minder, wie Lobe mehrmals hervorhebt – ein Aufruf gegen die Maschinisierung des Denkens und Überwachens.

Ohne Widerstand gibt es keine Freiheit

Bei der in vollem Gang befindlichen Entwicklung bekommen wir es mit neuen gesellschaftlichen und politischen Änderungen zu tun, denen wir uns unterwerfen oder denen wir Widerstand entgegensetzen können beziehungsweise neue, angemessene Begriffe definieren und Verhältnisse einrichten müssen. Lobes Position ist unumstritten. Sein aufklärerischer Impetus lässt keinen Zweifel zu.

° Gedankenfreiheit ist "das letzte Bollwerk, das selbst ein totalitärer Staat nicht zu durchbrechen mag" (Lobe). Also muss sie verteidigt werden – das ist die logische Konsequenz. Aber wie lange noch?

° In der integrierten digitalen Welt von heute findet keine Auseinandersetzung statt und gibt es keine Wahl, ob du mitmachst oder ob du dich entscheidest, nicht mitzumachen und die Konsequenzen zu tragen. Anders gesagt: Es ist beinahe unmöglich geworden, "nein" zu sagen und etwas nicht tun zu wollen.

° Wenn die grossen IT-Unternehmen heute grossmäulig verkünden, dass sie uns durch und durch kennen, weil sie ja unsere persönlichen Daten kennen und laufend verbessern, dann heisst das, dass sie auch gleich für uns wählen und abstimmen können. Sie wissen ja über uns Bescheid.

° Ohne Abweichung, ohne Ausnahme, ohne Ablehnung, auch ohne Widerstand, gibt es aber keine Freiheit, keine Individualität – keine mehr. Es wäre das Ende des Politischen, das Ende der liberalen Staatsform, die einige noch gekannt haben, die sie mit den gegenwärtigen Zuständen vergleichen können – und erschrecken, wenn sie es tun.

Lobe redet Klartext, heute eine Seltenheit. Er verwendet einige fabelhafte zugespitzte Formulierungen, bei denen einem ein Licht aufgeht. Vielleicht möchte er gern ein oder das andere Mal sagen, dass alles schön wäre, wenn es so wäre, wie er sagt, aber er annehmen muss, dass längst alles vorbei und der point of no return überschritten ist. Nur darf sich der Politikwissenschaftler keine Übertreibungen erlauben. Umso besser. Denn wer wissen will, auf was für einer einsamen, bedrohten Klippe inmitten einer aufgebrachten, wogenden Gegenwart wir stehen, kann das Buch lesen, schleunigst, zum eigenen Gewinn. Um abzuschätzen, was uns noch alles bevorsteht.



27. Dezember 2019