In seinem Buch "Zwei Hälften des Lebens" beschreibt der Autor Eberhard Rathgeb am Beispiel von Hegel und Hölderlin die Zeit, als die deutsche Geisteskultur einen einzigartigen Höhepunkt erreichte.

Von Aurel Schmidt

Zwei Hälften bilden ein Ganzes, die es zusammensetzen; zwei entgegengesetzte, sich ergänzende Pole formieren eine Einheit. Mit diesem Gedanken spielt der deutsche Schriftsteller Eberhard Rathgeb. Spielen ist ein angemessener Ausdruck für sein Vorgehen. Rathgeb untersucht, was man über die verfügten Begriffe und Kriterien sagen kann – und sagt es selbst auf eine überraschende, aufhorchen lassende, fast rhapsodische Art und Weise.

Die zwei Teile, auf die er im Besonderen eingeht, sind zwei Titanen der deutschen Geistesgeschichte: Hegel und Hölderlin. Beide wurden 1770 geboren, beide (und zusammen) im Tübinger Stift zu Theologen ausgebildet. Später wendeten sich beide anderen Lebenszielen zu. Hegel wird für die Althegelianer zum preussischen Staatsphilosophen, für die Junghegelianer zum Vorläufer des dialektische Materialismus und damit unter anderen von Karl Marx, der bekanntlich zur Richtigstellung Hegel bloss vom Kopf auf die Füsse stellen muss, und schon war alles klar. Hölderlin wiederum vertrat, anders als Hegel, die literarische Gegenseite.

Anders gesagt: die zwei Hälften im Titel des Buchs sind die rationale, wissenschaftliche, philosophische (Hegel) und die intuitive, künstlerische (Hölderlin) Seite der deutschen Geistesgeschichte.

Zwei Teile, zwei Gegensätze sind wie Bausteine, die Rathgeb durch das Buch hindurch immer wieder aufgreift und zu neuen Begriffsergebnissen anordnet: Negation und Affirmation, Wissenschaft und Offenbarung, Wort und Tat, Körper und Geist, Gefühl und Verstand, (deutscher) Idealismus und Materialismus, Wirklichkeit und Idee, Ich und Nicht-Ich (bei Johann Gottlieb Fichte), sogar Deutschland und Frankreich. Alles Bestehende, das wir zu verstehen versuchen, scheint auf einer dualen Anlage zu beruhen.

Rathgeb neigt eher zum Manifesten und Konkreten, auch wenn sein Thema ihn oft in abgelegene abstrakte Höhen führt. Auf den Boden der Erfahrung führen ihn dann jeweils seine Tochter beziehungsweise sein Nachbar, der Landwirt ist, zurück, die mit praktisch orientierten Kommentaren zu Wort kommen. Das erweitert den Konstruktionsplan seiner Argumentationsführung, und man merkt: Es ist längst nicht alles gesagt, es übersteigt 500 Buchseiten bei weitem.

Durch den operativen Einbezug des praktischen Denkens entsteht in immer neuen Anläufen und Bahnen zuletzt eine Mehrstimmigkeit der Aussage, die ins Allgemeine ausgreift.

"Eine Art Buch, ein künstliches Gebilde"

Rathgeb beschränkt sich auf die Zeit von 1770 bis kurz nach 1800 (die "Phänomenologie des Geistes" erscheint 1807, im gleichen Jahr, in dem Hölderlins Einzug als Pensionär in das Turmzimmer in Tübingen erfolgt, wo er den Rest seines Lebens verbringen wird). Der Zeitraum der dreissig Jahre kann als eine Art Gründerzeit der deutsche Geisteskultur bezeichnet werden. Es ist zugleich die Zeit, in der Philosophie und Literatur zu Wissenschaften und beruflichen Tätigkeiten avancieren (Hölderlins literaturtheoretische Schriften erscheinen demnächst bei Felix Meiner).

Wir wohnen also einem Aufbruch ohnegleichen bei, und dies zu einer Zeit, da die grosse Mehrheit der Menschen in schrecklich engen, pauveren, bedrückenden Verhältnissen lebten und kaum irgendwelche nennenswerten Anregungen empfingen. Ausserdem war Deutschland zersplittert in Dutzende kleiner Fürstentümern, der Gedankenaustausch also erschwert, auch wenn es einige Hotspots gab wie etwa die Universität Jena.

Diesen Geistesaufschwung als epochales Ereignis darzustellen, dürfte die zweite Absicht gewesen sein, die Rathgeb mit seinem Buch verfolgt hat. Danach geht die Philosophiegeschichte weiter mit Arthur Schopenhauer, der aus der Philosophie eine "transportable Weltanschauung" (Rathgeb) macht, und mit Friedrich Nietzsche (der bei Rathgeb nicht vorkommt) – während heute eine gewisse Philosophie "in den Bahnhofsbuchhandlungen" angekommen ist und eine andere in der "hausgemachten Unverständlichkeit" endet, wie Peter Sloterdijk in seinem unvergleichlichen Sarkasmus einmal sagte. Man muss sich nur umsehen. Ein bärbeissiger Satz, der als Pointe hier doch wenigstens en passant platziert werden soll.

Dass Rathgeb das extrem belastete Verhältnis Hölderlins zu seiner Mutter nicht weiter verfolgt hat, ist eigentlich überraschend, weil er sich zweimal auf David Cooper beruft. Der legendäre Anti-Psychiater hatte in den 1968er-Jahren in seinem fulminanten Buch "Der Tod der Familie" doch immerhin die zu enge Mutterbindung als Lebensgefahr, als Katastrophe für die Ausbildung einer selbstvertrauenden persönlichen Autonomie erklärt.

Nun ja. Ein Buch mit wissenschaftlichem Anspruch zu schreiben, war vielleicht gar nicht Rathgebs Absicht und Psychologie nicht sein Thema. Dafür überwiegen die narrativen Qualitäten, die dazu verführen, sich gern den kunstvoll konstruierten Bewegungen der Sprache, dem breit, majestätisch fliessenden Strom der Worte hinzugeben.

Rathgeb traut dem Wort, der Sprache viel zu – eigentlich alles! Was er über das Doppelgestirn Hegel und Hölderlin sagt, trifft genauso auf seine eigene Absicht zu. "Aus den vielen Buchstaben, die sie aufgeschrieben haben, soll der Geist wiedererstehen, der sie setzte, nicht nur ein Sinn und eine Bedeutung, die durch die Leser sickern wie Wasser, sondern eine Gestalt, eine Einheit, etwas in sich Geschlossenes, Gelungenes, das aussieht wie eine Art Buch, ein künstliches Gebilde." Eine fabelhafte, in die Tiefe dringende Gesamtdarstellung der Zeit ist Rathgebs Buch sowieso. Das vielleicht zu allererst.


Eberhard Rathgeb: Zwei Hälften des Lebens. Hegel & Hölderlin. Eine Freundschaft.nchen (Blessing) 2019. 464 Seiten. ca. Fr. 37.90




22. Januar 20